Ein steirisches Buch zu 80 Jahre Kriegsende
Buchkritik: Roter Stern über Graz, Barbara Stelzl-Marx
Text: Lydia Bißmann - 16.05.2025
Anlässlich des 80. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs legt die Historikerin Barbara Stelzl-Marx mit Roter Stern über Graz ein Buch vor, das die sowjetische Besatzung der steirischen Landeshauptstadt dokumentiert. Grundlage sind Archivmaterialien, Interviews, Polizeimeldungen und Zeitungsartikel – ein wissenschaftlich fundiertes Werk, das zugleich erzählerische Elemente nicht scheut.
Perspektive aus dem Alltag
Fiktion und historische Genauigkeit
Zwischen Nöstlinger und nüchterner Geschichtsschreibung
Die Darstellung der sowjetischen Soldat:innen erinnert stellenweise an Christine Nöstlingers Maikäfer flieg: Uhrenliebhaber mit Pferden, freundlich zu Kindern, aber auch bedrohlich für Frauen – besonders unter Alkoholeinfluss, der immer wieder zu eskalierenden Situationen führt. Diese Ambivalenz ist charakteristisch für Stelzl-Marx' Zugang: Sie urteilt nicht, sondern zeigt. Leser:innen werden eingeladen, sich selbst ein Bild zu machen.
Zugleich bietet das Buch einen Überblick über wichtige Entwicklungen in Graz: die Wiedereröffnung von Theatern, Oper und Kinos, die Suche nach untergetauchten Nazis, Umbenennungen von Straßen, Plünderungen oder das Auftauchen von Stalin- und Leninbildern in Schaufenstern. Man begegnet auch zentralen Einrichtungen der Nahrungsversorgung, die das Bild der Stadt Graz bis heute prägen: der Rösselmühle, der Kaffeerösterei Hornig oder der Bäckerei Steiner (heute Sorger) in Eggenberg.
Fazit: Fundiert, lesbar, bewegend
Roter Stern über Graz ist ein klug komponiertes Buch, das wissenschaftliche Akribie mit narrativer Zugänglichkeit verbindet. Es eignet sich sowohl für historisch Interessierte als auch für Leser:innen, die den Alltag der unmittelbaren Nachkriegszeit nachvollziehen möchten. Durch die fiktive Erzählerin entsteht emotionale Nähe, ohne dass der Text seinen dokumentarischen Anspruch verliert.
Trotz der Vielzahl an Quellen bleibt das Buch leicht lesbar – oder erlaubt bei Interesse auch ein vertieftes Studium der Fußnoten. Barbara Stelzl-Marx gelingt ein ebenso sachliches wie berührendes Porträt einer kaum bekannten Episode der österreichischen Nachkriegsgeschichte.

Cover: Roter Stern über Graz (Fotocredit: Molden Verlag)ern über Graz
Barbara Stelzl-Marx
Barbara Stelzl-Marx ist Professorin für europäische Zeitgeschichte an der Universität Graz, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Lektorin an der Diplomatischen Akademie Wien. 2020 wurde die Grazerin als »Wissenschaftlerin des Jahres« ausgezeichnet. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Folgen des Zweiten Weltkrieges, Kinder des Krieges, Zwangsmigration und der Kalte Krieg.
Titel: Roter Stern über Graz, Sachbuch
Autorin: Barbara Stelzl-Marx
Verlag: Molden Verlag
Erscheinungstermin: 04.04.2025
Seiten: 280
ISBN: 978-3-222-15148-4