Ein steirisches Buch zu 80 Jahre Kriegsende

Buchkritik: Roter Stern über Graz, Barbara Stelzl-Marx

Text: Lydia Bißmann - 16.05.2025

Rubrik: Literatur
Barbara Stelzl-Marx

Barbara Stelzl-Marx (Fotocredit: Hoffmann)

Anlässlich des 80. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs legt die Historikerin Barbara Stelzl-Marx mit Roter Stern über Graz ein Buch vor, das die sowjetische Besatzung der steirischen Landeshauptstadt dokumentiert. Grundlage sind Archivmaterialien, Interviews, Polizeimeldungen und Zeitungsartikel – ein wissenschaftlich fundiertes Werk, das zugleich erzählerische Elemente nicht scheut.

75 Tage lang stand Graz im Frühjahr und Frühsommer 1945 unter sowjetischer Herrschaft. Während in der Sowjetunion Stalin regierte – als Erzfeind des soeben besiegten Nationalsozialismus – löste die Ankunft der Roten Armee in der Stadt bei vielen Bewohner:innen große Besorgnis aus. Jahrzehntelange antibolschewistische Propaganda ließ sich nicht einfach aus den Köpfen vertreiben, und so fiel es schwer, die Befreiung nicht auch als Bedrohung wahrzunehmen – zumal es britische Truppen gewesen wären, die viele lieber gesehen hätten.

Perspektive aus dem Alltag

Im Mittelpunkt steht Johanna Herzog – eine reale historische Figur, über die allerdings wenig bekannt ist. Stelzl-Marx nutzt diese Dolmetscherin der sowjetischen Administration als fiktionalisierte Erzählinstanz, um die Geschehnisse aus einer individuellen Perspektive zu schildern. Herzog erlebt die Besatzung hautnah mit, hat durch ihren Beruf Einblicke in Abläufe, die anderen verborgen bleiben, und ermöglicht so eine differenzierte Darstellung dieser Übergangszeit.

Fiktion und historische Genauigkeit

Die Autorin ergänzt die wenigen überlieferten Informationen über Johanna Herzog durch fiktive Elemente. Diese erfundenen Details dienen nicht der Dramatisierung, sondern erlauben einen tieferen Einblick in den Alltag jener Zeit. Stelzl-Marx beschreibt, wie die junge Frau Geld verdienen, ihre Tochter im Volksschulalter einkleiden und einschulen, Rezepte aus ungewöhnlichen Zutaten improvisieren oder Lebensmittel organisieren muss – Szenen, die beinahe literarisch anmuten, aber stets mit historischen Quellen belegt sind. Jedes der 34 Kapitel beginnt mit einer typografisch hervorgehobenen Polizeimeldung. Fußnoten verweisen auf Zeitungsberichte, Tagebücher und Archivdokumente. Herzstück des Bandes bilden 80 Oral-History-Interviews mit Personen, die als Kinder oder Jugendliche das Kriegsende 1945 und die anschließende sowjetische Besatzungszeit in Graz miterlebt haben. Illustriert wird der Band mit zahlreichen Fotos, die zerstörte Gebäude, das Hissen der österreichischen Fahne nach Kriegsende, offizielle Pressefotos von Politikern und Truppen, aber auch viele private Aufnahmen von Grazer:innen und Mitgliedern der sowjetischen Besatzungsmacht zeigen. So entsteht ein eindrucksvolles Bild der Nachkriegstage, das sowohl greifbar als auch glaubwürdig ist.

Zwischen Nöstlinger und nüchterner Geschichtsschreibung

Die Darstellung der sowjetischen Soldat:innen erinnert stellenweise an Christine Nöstlingers Maikäfer flieg: Uhrenliebhaber mit Pferden, freundlich zu Kindern, aber auch bedrohlich für Frauen – besonders unter Alkoholeinfluss, der immer wieder zu eskalierenden Situationen führt. Diese Ambivalenz ist charakteristisch für Stelzl-Marx' Zugang: Sie urteilt nicht, sondern zeigt. Leser:innen werden eingeladen, sich selbst ein Bild zu machen.

Zugleich bietet das Buch einen Überblick über wichtige Entwicklungen in Graz: die Wiedereröffnung von Theatern, Oper und Kinos, die Suche nach untergetauchten Nazis, Umbenennungen von Straßen, Plünderungen oder das Auftauchen von Stalin- und Leninbildern in Schaufenstern. Man begegnet auch zentralen Einrichtungen der Nahrungsversorgung, die das Bild der Stadt Graz bis heute prägen: der Rösselmühle, der Kaffeerösterei Hornig oder der Bäckerei Steiner (heute Sorger) in Eggenberg.

Fazit: Fundiert, lesbar, bewegend

Roter Stern über Graz ist ein klug komponiertes Buch, das wissenschaftliche Akribie mit narrativer Zugänglichkeit verbindet. Es eignet sich sowohl für historisch Interessierte als auch für Leser:innen, die den Alltag der unmittelbaren Nachkriegszeit nachvollziehen möchten. Durch die fiktive Erzählerin entsteht emotionale Nähe, ohne dass der Text seinen dokumentarischen Anspruch verliert.

Trotz der Vielzahl an Quellen bleibt das Buch leicht lesbar – oder erlaubt bei Interesse auch ein vertieftes Studium der Fußnoten. Barbara Stelzl-Marx gelingt ein ebenso sachliches wie berührendes Porträt einer kaum bekannten Episode der österreichischen Nachkriegsgeschichte.

Cover: Roter Stern über Graz (Fotocredit: Molden Verlag)ern über Graz

Barbara Stelzl-Marx

Barbara Stelzl-Marx ist Professorin für europäische Zeitgeschichte an der Universität Graz, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Lektorin an der Diplomatischen Akademie Wien. 2020 wurde die Grazerin als »Wissenschaftlerin des Jahres« ausgezeichnet. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Folgen des Zweiten Weltkrieges, Kinder des Krieges, Zwangsmigration und der Kalte Krieg.

Titel: Roter Stern über Graz, Sachbuch
Autorin: Barbara Stelzl-Marx
Verlag: Molden Verlag
Erscheinungstermin: 04.04.2025
Seiten: 280
ISBN: 978-3-222-15148-4