Menschen am Rande des Abgrunds

Buchkritik: Nullzone, Isabella Straub, Elster & Salis

Text: Lydia Bißmann - 23.02.2025

Rubrik: Literatur
Buchkritik: Nullzone, Isabella Straub, Elster & Salis

Nullzone von Isabella Straub. (Credit: Elster & Salis Wien)

Isabella Straub hat nach sieben Jahren mit Nullzone beim Wiener Verlag Elster & Salis einen neuen Roman vorgelegt, der nur einen einzigen Fehler hat: Er endet nach 369 Seiten. Dort ist man nämlich endgültig süchtig nach den unterschiedlichen Erzählungen der drei Charaktere Gabor, Elfi und Rahid.

Nullzone ist wie eine klassische “group novel“ angelegt, der Zukunftsforscher Gabor, die Hausmeisterin Elfi und der Paketzusteller Rashid wechseln sich in jedem Kapitel mit ihren Lageberichten ab. Alle drei benutzen andere Worte, sind mit anderen Problemen beschäftigt, teilen sich aber ein Schicksal mit dem Plattenbauhochhaus in der Nullzone: den drohenden Abgrund.
Buchkritik: Nullzone, Isabella Straub, Elster & Salis

Isabella Straub. (Credit: KristekPhotography)

Smart City contra Plattenbau

Der verhunzte Sozialbau „Kratzer“, wie das Hochhaus von den Bewohner:innen genannt wird, droht mit seinen 23 Stockwerken einzustürzen, da für ein nagelneues, fancy Stadtplanungsprojekt namens Nullzone daneben zu tief gegraben wurde. Gabor verdient seinen Lebensunterhalt damit, anderen Menschen als Technologieforscher an der Uni die Welt zu erklären. In seiner eigenen findet er sich trotz praktizierter Zen-Meditation aber kaum zurecht. Elfi hat die 60 ebenfalls schon überschritten und pumpt sich selbst mit einem überdimensionalen Konvolut an Beruhigungspillen und Schlafmitteln voll, um einigermaßen normal durchs Leben zu kommen und eine ganz bestimmte Erinnerung für alle Zeiten aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Rashid ist fast Mitte 20, als Kind marokkanischer Eltern in Österreich geboren, aber muss den Stempel „Migrationshintergrund“ mit sich herumschleppen, wie seine Pakete, die er gelangweilten Hausfrauen und auch allen anderen täglich an die Türen bringt. Er kann kein Arabisch und findet seinen Job in der 15-minütigen Pause im Park als den schönsten der Welt, wenn nur die Pakete nicht wären. Hier lernt er wichtige und nützliche Dinge für seinen Traum der Selbstständigkeit, mit der er seine Ex-Freundin Daria wieder für sich begeistern möchte. Der Pfusch beim Graben für das neue Wohnprojekt in Wabenform, in das Gabor mit seiner Frau einziehen möchte, gefährdet die Heimat der beiden anderen, weshalb sie dafür auf die Barrikaden gehen. Manche mehr, manche weniger freiwillig.

Chaos als Methode im Großstadtdschungel

Die Geschichte ist trotz etlicher Nebenfiguren und Schauplätze tadellos konzipiert, nachvollziehbar und durch den spielerisch-eleganten Umgang mit Situationen, Wortbedeutungen und Sprache schlicht unglaublich lustig. Isabella Straub hat selbst Philosophie studiert und schafft es mit sehr viel Umsicht und einem großen Talent zur Vereinfachung, große Themen (wie den Begriff Donut-Universum) sehr mund- und lesegerecht zu servieren, ohne jemals das Gebiet der Banalität auch nur annähernd zu betreten. Wie man leben soll, das wissen die Gemeindebaubewohner:innen gefühlt um einiges besser als der Denkprofi Gabor, leider haben sie kaum Gelegenheit dazu, es befriedigend zu praktizieren. Der Doktor der Philosophie hätte vielleicht mehr Möglichkeiten, ist aber zu träge, dumm oder verloren, um seine Chancen für ein erfülltes Leben zu sehen. Wie Vicki Baum vor hundert Jahren in „Menschen im Hotel“ oder „Hotel Shanghai“ beschreibt, schildert Isabella Straub das Milieu der weniger betuchten Menschen lebendig, respektvoll und vor allem mit sehr viel Verständnis für menschliche Schwäche. Hausmeisterin, Taxifahrer, UFO-Freaks, Alkoholiker, Supermarktkassiererin und eben der Paketzusteller sind insgesamt viel farbiger, vitaler und vor allem sympathischer gezeichnet als der obere Mittelstand, der Dekan, die Kunstermittlerin, der Architekt oder die Gemeinderätin der fragwürdigen Fraktion „Neue Alternative Linke“. Daneben tauchen herrlich skizzierte Nebenfiguren auf, wie etwa Elfis einzige Freundin Agnes, die nach außen hin ein fürchterlicher Messie, aber nach innen hin der aufgeräumteste Mensch ist, dem Elfi je begegnet ist. So aufgeräumt, dass sie gerne auf Verben in einem Satz verzichtet, weil sie sie als nicht notwendig ansieht. Die obere Mittelschicht unterhält sich über stinklangweilige Dinge wie einen Hausbooturlaub und Weinsorten oder formuliert elegante, spiegelglatte Botschaften, die erwachsen und freundlich klingen sollen, aber sehr nach Anwaltsberatung riechen, wie das bei Gabors Ehefrau Sonja der Fall ist. Besonders lustig wird es, wenn ein und dieselbe Situation aus unterschiedlicher Perspektive beschrieben wird. Unterm Strich kommt dabei heraus, dass kaum jemand anderen aufmerksam zuhört und kaum etwas deshalb geschieht, weil das jemand genau so haben möchte. Zufall, Ignoranz, Achtlosigkeit oder Ohnmacht bestimmen das chaotische Szenario, das oft dystopische Züge annimmt, aber genau so heute in Wien spielen könnte. Einen Supermarkt mit Acker, in dem die Kund:innen mickriges Discount-Gemüse ernten können, kann man sich genauso gut vorstellen wie das Messie-Altenheim mit cleanen Zimmern und einer Messiehalle, die die Bewohner:innen nach Herzenslust vollmüllen dürfen, in dem Agnes ihren Lebensabend verbringt. Vielleicht gibt es ja beides bereits.

Gruppenroman mit Suchtpotenzial

Isabella Straub behandelt in Nullzone Probleme wie die Immobilienbranche, die prekären Arbeits- und Wohnsituationen in der Großstadt, Suizid und Migration – nicht unbedingt Wohlfühlthemen. Dennoch gelingt es der Autorin, mit sehr viel Fingerspitzengefühl ein kluges, durchdachtes, superkomisches und nicht zuletzt mit sehr viel Wohlwollen und Hoffnung gespicktes Porträt der Großstadtgesellschaft zu zeichnen. Sie trifft die Tonalität der einzelnen Menschen punktgenau und wird nie peinlich, wenn sie den Straßenslang des ehrgeizigen Rashid, den inneren Monolog der naturklugen und empathischen Elfi oder der sonor-geschliffenen Erklärbärstimme von Gabor nachahmt. Egal, ob im 90er-Jahre-Wellness-Resort, vor dem Schlafengehen nach einem langen Arbeitstag, in der Straßenbahn zur Stoßzeit, am Strand von Bibione, am Schreibtisch oder in der Küche, während man wartet, dass die Kartoffeln endlich weich gekocht sind: Nullzone liest sich an jedem Ort, in jedem Zustand und in fast jeder Körperhaltung wie von selbst. Bleibt nur zu hoffen, dass die Autorin sich keine sieben langen Jahre mehr Zeit mit ihrem neuen Buch lässt.

Isabella Straub

Isabella Straub, 1968 in Wien geboren, lebt und arbeitetin Klagenfurt und Wien. Die ehemalige Journalistin und Werbetexterin studierte Germanistik und Philosophie. Sie veröffentlichte bisher drei Romane bei Blumenbar: „Südbalkon“, „Das Fest des Windrads“ und „Wer hier schlief“. Die Autorin wurde vielfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet wie z.B. dem FM4 Wortlaut-Literaturpreis und dem Walter-Serner- Preis.

Titel: Nullzone, Roman
Autorin: Isabella Straub
Verlag: Elster & Salis
Erscheinungstermin: 24. 02. 2025
369 Seiten
ISBN: 978-3-9505435-7-5