Kratzspuren (Auszug) von Christoph Dolgan

Reingelesen: manuskripte 238 (2023)

Text: Christoph Dolgan - 09.02.2023

Rubrik: Literatur

privat

Erst im Laufe des Tages, als das Gefühl so deutlich wurde, dass er es nicht länger verleugnen konnte, musste er sich eingestehen, es schon morgens, direkt nach dem Erwachen, gespürt zu haben und dass es sich den Vormittag über kontinuierlich gesteigert hatte. Schon im Schlucken des überzuckerten Milchkaffees hatte er es bemerkt: Ein harmlos-leichtes, aber bestimmtes Kratzen im Hals. Einmal, gestand er sich jetzt ein, hatte er sogar abgehustet und versucht, dieses Kratzen, das er in diesem Moment noch gar nicht bewusst wahrgenommen hatte, loszuwerden. Den ganzen Vormittag über, während er in höchster Konzentration gearbeitet hatte, hatte er das Kratzen im Hals wahrgenommen – wie das Scharren einer Maus an Gitterstäben, dachte er –, es aber ignoriert. Noch nie zuvor hatte er während der Arbeitszeit so viel Wasser getrunken. Glas um Glas, ohne auch nur einmal austreten zu müssen. Jetzt saß er zur Mittagspause. Er musste schlucken und spürte diese Sache in seinem Hals deutlicher: Es war noch immer ein Kratzen, stärker jetzt, wie nach einer durchrauchten Nacht. Ein Knödel bildete sich da aus, etwas Kugelförmiges, das aber nicht glatt, sondern klettenartig-aufgeraut war, dabei nicht eigentlich widersetzlich, sondern daunenhaft-weich. Es war ihm kaum möglich, den sich kontinuierlich in seiner Mundhöhle sammelnden Speichel zu schlucken. Die Menschen, denen er beim Weg zurück ins Büro begegnete, wussten augenscheinlich Bescheid. Der Nachmittag verging langsam und quälend, das Unbekannte in seinem Hals schwoll immer stärker an. Er hustete ab, steigerte sich in Hustenanfälle, bis er kaum noch Luft bekam. Regelmäßig ging er jetzt auf den Abort, um im Spiegel seinen Hals zu kontrollieren. Absurd entstellt musste er sein, ausgebeult und größer noch als sein Kopf. Aber er sah aus wie immer, spindeldürr und selbst der Adamsapfel war kein bisschen verändert. Nur sein Gesicht war gerötet vom Husten und glänzend vom Schweiß. Als er das Büro verlassen und über die steile Straße hinab endlich nach Hause gehen konnte, wusste er sich zur Gänze in diesem Halsgefühl zusammengefasst. Kopfsteinpflaster und neugierige Blicke. Brennendes Kratzen, ein Würgreflex. Er ging auf die Knie. Flaches Husten und trockenes Würgen. Er steckte sich den Finger in den Mund, weit hinab in den Rachen, soweit es ihm möglich war. Kalte Würge- und Rülpsgeräusche, resonanzlos und leer. Seine Augen füllten sich mit Tränenflüssigkeit. Kurz, es konnte kaum eine Sekunde gewesen sein, war ihm schwarz vor Augen geworden und ein brennender Schmerz war durch seinen Hals gefahren. Als er wieder das volle Bewusstsein erlangt hatte, war sein Gesicht bleich und schweißnass, und vor ihm schwebte, wenige Zentimeter über dem Boden, ein Ball. Er sah aus wie eine verblühte Löwenzahnkugel. Traurig und schön und ganz selbstverständlich. Das Kratzen in seinem Hals war verschwunden, eine kühle Leichtigkeit wie von Mentholzigaretten machte sich darin breit. Er raffte sich vom Boden auf, und der Ball tat es ihm gleich: Er schwebte vor ihm, direkt in Augenhöhe. Die Stadt war jetzt unmissverständlich und die Straße leer bis auf ihn und den Ball, dem er schadlos nachlief.

Cover manuskripte 238, Credits: Isa Riedl

Kurzbiografie

Christoph Dolgan, geb. 1979 in Graz, Studium der Germanistik und Kulturanthropologie. Veröffentlichungen in div. Zeitschriften. manuskripte-Förderpreis der Stadt Graz 2013. Buchveröffentlichungen: Ballastexistenz (Droschl, 2013), Elf Nächte und ein Tag (Droschl, 2019).