Nachhaltiges Denkgebäude
Merkur Campus in Graz
Text: Susanne Ary, ad literam - 14.03.2023
Rubrik: Design
Eine Besprechung in der Berghütte am See und dann mit dem Orient Express ins Fitnessstudio: Der Merkur Campus in Graz ist eine Unternehmenszentrale, die keine sein möchte. Sein Interior Design ist eine Absage an allzu mainstreamigen Corporate-Stil und schafft stattdessen ein Gesamtkunstwerk aus Nachhaltigkeit, Modernität und echtem Wohlfühlbüro. Das innovative Designkonzept wurde von der SelfSightSeeing Company erarbeitet.
Es soll ja nicht nach einer Versicherung aussehen: So lautete die Kurzfassung des Briefings für das Interior Design der Unternehmenszentrale der Merkur Versicherung an Itshe Petz und Io Tondolo, genannt SelfSightSeeing Company. „Wir wollen mit unserem Konzept in ein Abenteuer einladen“, erklärt Io Tondolo die Idee hinter dem neuen Merkur Campus. „Das Gebäude sollte ein Erlebnisraum werden, mit Installationen, Themenräumen und Details, die es zu entdecken gibt.“ Erste Entwürfe für die Neugestaltung der 10.000 Quadratmeter Nutzfläche entstanden 2017. Wer in den folgenden drei Jahren den Fortschritt via Webcam beobachtete, merkte schnell, dass diese Unternehmenszentrale anders als der Mainstream werden würde. Alle Oberflächen, Möbel, Lampen, insgesamt elf Büroetagen, die Eingangshalle, das Kundenzentrum und sogar ein Fitnessstudio haben die einzigartige Handschrift der SelfSightSeeing Company bekommen: außergewöhnliche Materialien, Upcycling-Objekte, Foto-Collagen als Tapeten, Meeting-Räume im Stil des Orient Express oder einer Berghütte am See. „Heute ist das ungewöhnlich, dass Künstler und Designer ganze Gebäude gestalten – früher war das normal. Wände wurden bemalt, Skulpturen hingestellt.“ Damit steht der neue Merkur Campus gleich in mehrfacher Hinsicht für Modernität aus Tradition.
Die Lobby des Merkus Campus (c) GEOPHO
Sustainable Design: Bis ins letzte Detail nachhaltig
Modern heißt auch klimafreundlich: Nachhaltigkeit bei der Gebäudetechnik ist heute Standard. So kommt auch der Merkur Campus nicht ohne LED- Beleuchtung, Energierückspeisung, Sonnenschutz und natürliche Belüftung aus. Aber auch im Innenraum setzte die SelfSightSeeing Company dezidiert darauf, Vorhandenes wiederzuverwenden und auf originelle Weise Ressourcen zu sparen: Historische Türen und Teile der alten Büroeinrichtung aus dem ehemaligen Hauptgebäude am Joanneumring wurden zu neuen Einrichtungsgegenständen upgecycelt, die Teppiche bestehen aus Recycling-Material und 550 alte Flugzeugboxen der Air Berlin ersetzen übliche Bürocontainer. „Typisch für unsere Projekte ist, dass wir vorhandene Materialien aufnehmen und sie transformieren und neu kombinieren. So geben wir ihnen eine neue Bedeutung“, berichtet Itshe Petz. So legten die Designer bei den Türen alte Farbschichten frei und spielen so subtil auf die lange Geschichte des Unternehmens an, die immerhin bis ins Jahr 1798 zurückreicht. An den Anfang soll der „Gründerbrunnen“ erinnern, der im Foyer als Wasserspender dient und als Symbol für den Ursprung für Gesundheit und Leben steht. Die Vision des Auftraggebers, eine „Vorsicherung“ zu sein, spiegelt sich ebenfalls im Design der SelfSightSeeing Company wider: Im Fitnessstudio ist jeder Raum einer Sportart gewidmet. „Inspiration war die Geschichte des Sports“, erzählt Io Tondolo. „Die Merkur steht seit ihrer Gründung als Versicherung für Industriearbeiter für gesunden Lebensstil und Sportlichkeit, und das soll das Design auch zeigen.“
SelfSightSeeing Company (c) Richard Lürzer
Responsive Design: Die Belegschaft redet ein Wörtchen mit
Aber was sagen eigentlich die Mitarbeiter:innen dazu, wenn sie sich auf einmal in einem
so außergewöhnlichen Arbeitsumfeld wiederfinden? Itshe Petz und Io Tondolo waren sich bewusst, dass die gewagte und mutige Gestaltung eines Arbeitsplatzes Fingerspitzengefühl braucht. „Wenn da einfach zwei Künstler daherkommen und irgendetwas Komisches hinbauen, wäre die Akzeptanz nicht besonders groß gewesen“, sagt Petz. „Deswegen haben wir die Mitarbeiter:innen der Merkur von Anfang an in den Designprozess eingebunden.“ In ihrem Atelier fanden regelmäßige Workshops statt, bei denen sich das Designerduo Ideen, Inspirationen und Feedback von der Merkur-Belegschaft holte. „Wir wollen Wohlfühlräume schaffen. Wir wollen, dass die Menschen, die hier arbeiten, aus ihren Büros hinausgehen und
in eine andere Welt eintauchen.“ Wie diese Welt aussehen sollte, das bestimmten die Mitarbeiter:innen selbst mit – und sie verewigten sich sogar in den Wänden: Das „Merkur Molekül“, die Flieseninstallation, die sich durch das gesamte Gebäude fortpflanzt, besteht aus historischen Bodenfliesen der Wiener Kapuzinerkirche. Die Mitarbeiter:innen der Merkur haben sie rückseitig beschriftet und mit individuellen Wünschen und Sprüchen versehen. „Am Erfolg eines Unternehmens sind immer die Mitarbeiter:innen beteiligt“, betont auch Christian Kladiva vom Merkur-Vorstand. „So wie ein Molekül aus mehreren Teilchen besteht, sind auch unserer Mitarbeiter:innen ein Teil der Merkur“, so Kladiva.
(c) GEOPHO
Itshe Und Io: Designerduo im kreativen Gleichklang
Itshe Petz und Io Tondolo, die hinter der SelfSightSeeing Company stecken, sehen ihre Arbeit angesiedelt an der Grenze zwischen bildender und performativer Kunst sowie Design. „Wir gestalten Orte, die zu Erlebnissen werden. Das, was in den Menschen geschehen soll, nennen wir ‚self sight seeing‘ – wenn der äußere Raum auf das Innere wirkt“, erklären Itshe und Io. Eine originelle Wirkung erzeugen die beiden Designer sogar selbst: Sie sind jeden Tag gleich gekleidet. „Wir wollen, dass die Leute sehen, dass wir eine Verbindung haben, dass wir gemeinsam durchs Leben gehen und arbeiten.“ Abwechselnd wird entschieden, was am jeweiligen Tag angezogen wird – die Kleidung bewahren sie in zwei gespiegelten, exakt gleich einsortierten Schränken auf.
(c) GEOPHO