Hypnotisches Spiel mit gemischten Gefühlen bei La Strada

Kritik: Studio Dries Verhoeven, Everything must go

Text: Lydia Bißmann - 30.07.2025

Rubrik: Theater
Kritik: Studio Dries Verhoeven, Everything must go

Studio Dries Verhoeven, Everything must go im Helmut-List-Halle-Depot. (Fotocredit: La Strada Graz / Nikola Milatovic)

Bis an den Rand vollgefüllte Supermarktregale bilden das Ambiente für die neueste Installation des niederländischen Theatermachers Dries Verhoeven für La Strada im Helmut-List-Halle-Depot. „Everything must go” wird von drei als Disney-Schneewittchen mit Schweinchenmaske kostümierten Performerinnen (Isadora Tomasi, Rosie Sommers, Annica Muller) bespielt, die einander abwechseln.

Wie auch die leicht parasitäre Märchenfigur, die das Haus der Zwerge durchstöbert, probieren sie auch von allen möglichen Gläsern, stopfen knirschendes Knabberzeug in sich hinein oder cremen sich mit Tomatenmark ein. Das Thema ist hier aber nicht (nur) Mundraub, sondern Ladendiebstahl als politischer Akt. Schneewittchen ist gefangen in einem gläsernen Käfig, in dem zwei Supermarktgänge nachgebildet sind. Das Publikum kann durch die sorgfältig arrangierten Grundnahrungsmittel und Convenience-Produkte einen Blick auf das Schneewittchen werfen, das durch eine bewegliche Handkamera und vier weitere Kameras mit täuschend echter CCTV-Optik auf Monitore übertragen wird. Es ist nicht leicht, sie anzusehen, zu sehr kommt man sich als Beobachter:in vor, lieber verfolgt man den performativen Monolog über den Bildschirm. Aber auch das ist nicht so leicht, zu bunt, zu verführerisch, zu vielversprechend ist das Gesamtarrangement, das ja genau dafür designt ist, um Bedürfnisse zu erwecken.
Kritik: Studio Dries Verhoeven, Everything must go

Studio Dries Verhoeven, Everything must go im Helmut-List-Halle-Depot. (Fotocredit: La Strada Graz / Nikola Milatovic)

Schmerzhafte Kritik an einem Alltagsort

Aus Interviews mit Menschen, die aus verschiedenen Gründen – aus Armut, Zwang, Nervenkitzel oder Aktivismus – Dinge im Nahversorger unbezahlt mitgehen lassen, entstand ein Textloop, der gar nicht so lose miteinander verbunden ist. Der durchgehende Tenor: Wir sind gefangen als Mittäter:innen in einem System, in dem von der gnadenlos in Plastik verpackten Gurke bis zu den händisch geschälten Garnelen im Glas über hohe Mieten, Selbstbedienungskassen und Bullshitjobs so vieles falsch ist. Ein Supermarkt versorgt uns mit Nahrung, hier erscheinen wir hungrig und müde und versuchen, unsere kleinen Sehnsüchte im Alltag zu stillen. Schneewittchens Argumente fühlen sich nahe am Stammtisch angesiedelt an, aber sie hat irgendwo immer recht, die Idee stimmt, auch wenn sie manchmal etwas kurzsichtig formuliert scheint. Und ist es nicht immer der Kapitalismus, der uns fehlende Weitsicht unterstellt, um uns gefügig zu halten? Es ist ein wenig schmerzhaft, Gesellschaftskritik an diesem Ort der alltäglichen Zuflucht angesiedelt zu sehen. Man ist versucht, Gegenargumente zu finden – für völlig überteuerte Petersilie oder Bio-Produkte, zu denen wir aus schlechtem Gewissen greifen, wohl wissend, dass wir damit die Welt nicht retten werden. Man möchte innerlich dagegen argumentieren, aber die Argumente entgleiten, und man hat ein doppelt schlechtes Gewissen, weil man nicht klauen will, aber auch sonst keine Ideen hat, wie dieser Teufelskreis von Überproduktion und Mangel zu durchbrechen ist. Kauf- oder Klauentscheidungen ändern die Welt nicht, darüber ist sich auch die zunehmend derangiert erscheinende Disney-Prinzessin im Klaren. Das Individuum kann, wird und soll die großen Krisen der Entfremdung, Ausbeutung und Einsamkeit nicht lösen – aber ist es nicht besser, irgendetwas zu tun, als sich auf der moralischen Hängematte auszuruhen?
Kritik: Studio Dries Verhoeven, Everything must go

Studio Dries Verhoeven, Everything must go im Helmut-List-Halle-Depot. (Fotocredit: La Strada Graz / Nikola Milatovic)

Perfektion als Safe Space

Erlösung aus diesen unbequemen Gefühlen bietet hier nur das Spiel der Kameras, das mit dem gekonnten Wechsel aus Perspektiven, Close-ups und Farben einen sinnlich-hypnotischen Tanz auf die Screens wirft und sich gegen Ende hin verdichtet. Das Stück wird bei La Strada mit Community Art gelabelt, wirkt aber auch als Kunstinstallation. Möglich wird das durch das bis ins kleinste Detail durchdachte Setting und das erstklassige, perfekt getaktete und hoch konzentrierte Spiel der Performerin, die dabei körperliche Grenzen überschreitet, ohne sich dabei auszuliefern. 

Kritik: Studio Dries Verhoeven, Everything must go

Studio Dries Verhoeven, Everything must go im Helmut-List-Halle-Depot. (Fotocredit: La Strada Graz / Nikola Milatovic)

Kritik: Studio Dries Verhoeven, Everything must go

Studio Dries Verhoeven, Everything must go im Helmut-List-Halle-Depot. (Fotocredit: La Strada Graz / Nikola Milatovic)