Ein tiefer Einblick in die prekären Arbeitnehmerverhältnisse von Essenzusteller*innen
Kritik: Riders, InterACT
Text: Robert Goessl - 25.10.2024
Rubrik: Theater
Die Inszenierung versteht sich als szenische Reportage, die den Alltag von Essenzusteller*innen in Österreich beschreibt. Die Grundlage dafür liefern mehrtägige Community-Workshops in Wien und in Graz sowie Interviews mit Brancheninsidern und Expert*innen, die vom InterACT-Team (Michael Wentschur, Martin Vieregg, Sophia Schessl, Rodi Banko, Wolfgang Rappel, Roland Banko) in ein Theaterstück gegossen wurden. Das Ensemble (Zaid Alsalame, Samuel Dietzel, Reza Hosaini, Jakub Machát, Linard Vogt, Eva Zečić) besteht ausschließlich aus ehemaligen und aktiven Ridern.
Das Ganze wird als Forumtheater präsentiert, eine Gattung, die von Augusto Boal in Brasilien entwickelt wurde, um Benachteiligten und Unterdrückten eine Bühne zu bieten und durch Interaktion mit dem Publikum auch Lösungsansätze und Diskussionsgrundlagen zu erarbeiten. Nicht zuletzt dient das Format auch dazu, die Zuschauer für das jeweilige Thema und die Probleme der Akteur*innen zu sensibilisieren. Folglich wird nach dem Durchlauf der Szenen in einem zweiten Teil das Publikum dazu ermutigt, in diese einzugreifen, und dabei diese zu diskutieren oder sogar selbst auf der Bühne in die Rolle einer Schauspielerin oder eines Schauspielers zu schlüpfen und eine alternative Handlungsweise auszuprobieren.
Ergänzt wird das durch Gespräche mit anwendenden Expert*innen zu dem Thema, die weitere Hintergründe beleuchten. Die Handlung, die dabei in Szenen erzählt wird, beruht ausschließlich auf Tatsachen. Es wurde nichts erfunden, die einzelnen Teile sind wirklich passiert, sie wurden nur dramaturgisch zu einer Geschichte verdichtet. Die unterschiedlichen Firmen werden sinngemäß mit Farben benannt: „Lila“, „Türkis“ und „Grau“.
Credit Wolfgang Rappel
Eine Anstellung in Abhängigkeit
Es wird die Geschichte Omar (Zaid Alsalame) erzählt, der als 35-jähriger Diplomingenieur aus Damaskus nach seinem positiven Asylbescheid einen Job sucht. Er informiert sich bei seinem Freund Abdullah (Reza Hosaini), der bei der Firma „Grau“ als Sub-Sub-Unternehmer arbeitet, über die Möglichkeiten der unterschiedlichen Arbeitsmodelle und heuert schließlich bei der Firma „Lila“ als Essenszusteller an. Sein Wunsch nach Sicherheit, also einer Festanstellung bei „Lila“ scheitert an der gelebten Praxis, den Arbeitsuchenden mehr oder weniger alternativlos vor vollendete Taschen zu stellen, und ihnen einen vorgefertigten Vertrag als freien Dienstnehmer zur Unterschrift vorzulegen.
Damit hat er zwar flexible Arbeitszeiten, kann dabei durch Mehrarbeit eventuell auch mehr verdienen, allerdings mit wesentlich weniger sozialer Absicherung und großer Abhängigkeit von der Firma, denn sie entscheidet letztendlich, wie viele Aufträge er bekommt. Damit wird auch das Risiko von Auftragsschwankungen auf ihn abgewälzt. Pro Lieferung erhält er zwischen 4 und 6 €, wobei er seinen Lohn noch selbst versteuern und Sozialversicherungsabgaben leisten muss, bei einer Festanstellung würde er netto 1200 € netto bekommen ohne weitere Abschläge. Die aktuelle Armutsgefährdungsschwelle in Österreich liegt übrigens bei 1572 € monatlich.
Credit Wolfgang Rappel
Das Leben als Rider: sichbar und unsichtbar zugleich
Thomas (Linard Vogt), mit Festanstellung als Rider-Captain mit 1350 € netto und Firmen-E-Bike, schult Omar ein. Thomas ist ein engagierter Langzeit-Student, der seine migrantischen Kolleg*innen auch immer wieder unterstützt, und sich auch bei „Fehlern“ in der Lohnabrechnung bei der Firma beschwert.
Im Laufe seiner Arbeit bekommt Omar die Schattenseiten des Jobs präsentiert: Rassismus von Kunden, Ignoranz und herablassendes Verhalten von den Restaurants, bei denen die Waren geholt werden und die Warteschleife, wenn man bei Problemen bei der Ausfahrt bei der eigenen Firma rückfragen möchte, die mit ihrer Scheißfreundlichkeit eigentlich nur Abwimmeln möchte. Und wenn man doch einmal durchkommt, sind die Auskünfte meist spärlich und oberflächlich. Obwohl man von der Firma größtenteils als Teil der großen „Lila“-Familie angesprochen wird, wohl um von seinen Mitarbeiter*innen so etwas wie eine Identifikation mit Job und Firma zu suggerieren, steht man bei der Arbeit unter totaler Überwachung – jeder Schritt wird getrackt und auch dokumentiert. Entsprechend wird mit diesen Informationen Druck auf die Mitarbeiter*innen ausgeübt.
Credit Wolfgang Rappel
Ein Sturz in den finanzellen Abgrund
Als Omar sich bei einem Sturz verletzt und dabei kaum Unterstützung von seiner Firma erfährt, außer das ihm bei seinem Anruf mitgeteilt wird: „Keine Sorge, du wurdest vom Dienst abgemeldet“, kommt er in finanzielle Schwierigkeiten, nachdem er als freier Dienstnehmer nur 50 % des Durchschnittsverdienstes, der letzten drei Monate als Krankengeld bekommt - in seinem Fall 550 €. Die andere Seite der Branche zeigt zunächst Boris (Jakub Machát), 23-jähriger Student der Politikwissenschaften, High-Performer und leidenschaftlicher Radfahrer, der für die Firma „Türkis“ als Ein-Personen-Unternehmen tätig ist. Aber der tiefere Einblick in die prekären Verhältnisse lässt auch ihn umdenken.
Credit Wolfgang Rappel
„Rides Collective“ als übergeordnete Arbeitnehmervertretung
Zusammen mit der Betriebsrätin Selina (Eva Zečić) versucht er bei einem Treffen die Anliegen mit anderen Fahrer*innen unterschiedlicher Firmen zu sammeln, um eine so eine übergeordnete Organisation als Vertretung der Rider zu schaffen. „Rides Collective“ versteht sich als übergeordnete Organisation, die neben der gewerkschaftlichen Vertretung, die nur für die Fixangestellten zuständig ist, auch freien Dienstnehmern und der Ein-Personen-Unternehmen, die am Rande der Scheinselbständigkeit agieren, einen niederschwelligen Zugang zu Informationen, deren Rechte betreffend, bietet.
Im Übrigen gibt es in der Realität noch immer keinen Kollektivvertrag für 2024, gefordert werden 8,7 %, derzeit geboten 5,8 %, was einen Reallohnverlust in dieser Niedriglohnbranche bedeutet. Derzeit blockiert die Wirtschaftskammer die Verhandlungen. Es gab bereits vereinzelte Streiks der Rider, es werden wohl nicht die letzten gewesen sein.
Credit Wolfgang Rappel
Wer nicht mehr gebraucht wird, wird einfach weggeworfen
Die Auftragslage der Firmen ist saisonabhängig und so kommt, wie es kommen muss. Nach einem erfolgreichen Winter werden die nun überflüssigen freien Dienstnehmer abgestoßen. Lukas (Samuel Dietzel) hat als Hub Coordinator bei „Lila“ die Aufgabe, die Rider, u. a. auch Omar, mit 300 € Abfindung zur sofortigen Kündigung zu überreden. Dabei setzt er diese auch unter Druck, sofort zu unterschreiben, denn er lässt unmissverständlich durchblicken, dass es trotz Kündigungsfrist für freie Dienstnehmer einfach keine Aufträge mehr geben wird, was unter Umständen nicht ganz legal ist, aber für die Firma enorm praktisch ist. So empathisch und bedauernd seine Sätze wirken mögen, de facto bleibt unter dem Strich nur ein schön formuliertes „Oida, gehts scheissn!“ übrig.
Credit Wolfgang Rappel
Forumtheater bedeutet auch, dass nach der letzten Aufführung das Projekt noch nicht beendet ist, denn die im Rahmen der Aufführungen mit dem Publikum gewonnenen Erkenntnisse werden einer Reflexion unterzogen. Im Zuge dessen wird es zu weiteren Diskussionsveranstaltungen kommen, bei denen die Konkretisierung der Anliegen mit möglichen Lösungsansätzen weitergeführt wird. Am Ende mündet der Vorgang in die Formulierung der konkreten Anliegen, die in Dialogveranstaltungen öffentlich präsentiert werden, um am Ende auch Entscheidungsträgern vorgelegt zu werden.
Dieses Projekt von InterACT zeichnet sich wie schon deren vergangene Projekte dadurch aus, die Anliegen sozial Benachteiligter in die Öffentlichkeit zu tragen und in diesem speziellen Fall, das Spektrum einer Branche abzubilden, die mehr oder weniger von Ausbeutung lebt.
Aus persönlicher Sicht möchte ich noch dazu bemerken: Wenn man schon einen Lieferdienst bemüht, dann sollte man wenigstens 2 € in der Tasche haben, um diese dann dem Rider als Trinkgeld in die Hand zu drücken.
Credit Wolfgang Rappel
Wer sich näher für das Thema interessiert:
Riders Collective
Zum Anschauen und Mitwirken im Theater am Lend:
25. u. 28. Okt. 2024, 19:30 Uhr
29. Okt. 2024, 15:00 Uhr (Nachmittagsvorstellung mit Live-Stream)
30. Okt. 2024, 19:30 Uhr
Anmeldung: 0650 / 7209350 oder office@interact-online.org