Eine ausdauernde Leseperformance als kluge Rückkehr mit gemischten Gefühlen
Kritik: Lesehalle der Gefühle, Theater im Bahnhof
Text: Robert Goessl - 26.12.2025
Rubrik: Theater
Das Theater im Bahnhof kehrt an seinen Ursprungsort zurück. Nachdem aber der Jugendwarteraum von 1989 nicht mehr existiert, wird die gesamte Bahnhofshalle bespielt bzw. belesen. Während des Normalbetriebs borgt man sich Kopfhörer aus, mit denen man die Lesung akustisch verfolgen kann, während man sich dabei frei im Gelände der Halle für die ungefähre Dauer von drei Stunden bewegen kann.
Die Texte für diese Lesung wurden aus Alexander Kluges Opus Magnum „Chronik der Gefühle“ mit über 2000 Seiten gewählt, das aus den zwei Bänden „Basisgeschichten“ und „Lebensläufe“ besteht und von der Anordnung her an menschliche Erinnerung angelehnt ist – also von der Gegenwart aus rückwärts. Es sei denn, es wird in die Zukunft geblickt, was in jeder Zeitlage passieren kann. Die Lesungen fanden an drei Tagen statt und für jeden Tag wurden andere Texte zu einem bestimmten Themenbereich ausgesucht, die dann auch von anderen Personen live vorgelesen wurden.

Felix Klengel, Martina Zinner, Lorenz Kabas, Monika Klengel, Juliette Eröd (Fotocredit Theater im Bahnhof)
Die Mystifizierung eines alltäglichen Ortes
Die jeweils vier Lesenden sind vor Ort anwesend und sichtbar, weil adrett in Purpur gekleidet. Sie setzen sich damit bewusst der Gefahr aus, am Grazer Bahnhof für Austria-Wien-Fans gehalten zu werden. Während des Lesens wechseln sie auch immer wieder die Position, sie interagieren auch miteinander und nehmen immer wieder Bezug auf das, was sie sehen und wahrnehmen, wenn zum Beispiel „Vorfreude ist die schönste Freude“ oder „Manche Ziele kannst du nicht mit dem Zug erreichen“ in großen Lettern als Werbebotschaften zu lesen ist. Man kann als Besucher:in ihnen also folgen, oder auch dem Treiben, dem Kommen, Gehen und auch Bleiben (!) von Menschen zusehen, während von Menschen erzählt wird und dabei Welten erfunden werden, die sich in der eigenen Gedankenwelt mit dem vor Ort Wahrgenommenen vermischen. Es ist jeden Tag auch ein anderer Musiker dabei, der zwischen den gelesenen Kapiteln live spielt und singt, versteckt in einem Raum eines ehemaligen Geschäfts am Bahnhof.

Juliette Eröd beim Aufstieg (Fotocredit Theater im Bahnhof)
Eine Entschleunigung zwischen Universum und Paralleluniversum
Das Paralleluniversum von Kluges Texten, die durchaus fordernd sein können, trifft dabei auf das Paralleluniversum der Reisenden und Einkaufenden und das des Raumes. Es ist dabei von Vorteil, sich nicht auf das Zuhören zu versteifen, sondern das Gehörte, also Alexander Kluges Texte, als Wellen zu verstehen, die einen durch die Bahnhofshalle tragen und damit einen anderen Blick auf das hektische Treiben ermöglichen aus einer Position der konzentrierten Ruhe. Da auch das Lesetempo gemächlich ist und die einzelnen Kapitel selten zehn Minuten überschreiten, stellt sich ein Effekt der Entschleunigung ein. Man kann auch durch schlichtes aufmerksames Verweilen dem sonst üblichen Warten am Bahnhof etwas entgegensetzen, dabei konzentriert beobachten, und das Beobachtete in das Gehörte einfließen lassen. Es ist ein Eintauchen in eine eigene Welt, mit der Unterstützung von Texten, die einen mit ihrer Genauigkeit, ihrem Scharfsinn und ihrer Fantasie in sich hineinziehen können, um ihre und die eigene Einfühlungsgabe mit den Personen in der Bahnhofshalle zu verbinden und damit in einer „unsystematischen Neugier“ dem Menschlichen auf die Spur zu kommen.

Monika Klengel und Juliette Eröd arbeitsteilig lesend (Fotocredit Theater im Bahnhof)
Splitter, die im Raum aufmerksamkeitsfordernd zersplittern
Es kommt dabei auch zu Spaltungen, denn zeitweise werden parallel in den Bereichen rechts und links der Haupthalle des Bahnhofs andere Texte gelesen. Nebst Aufmerksamkeit wird also von den Besucher:innen auch Entscheidungsfähigkeit gefordert, ohne zu wissen, was man dafür auf der einen Seite bekommt und auf der anderen Seite versäumt. Damit ergibt sich auch die Unmöglichkeit, an einem Abend alles zu hören, was gelesen wird, was zutiefst in der Idee des Abends liegt, denn schon bei der Entscheidungsfindung, welche Texte aus den 2000 Seiten gewählt werden, war die Kunst des Weglassens wohl die fordernste, während man sich eine Jause oder etwas zu trinken kauft, also seiner gefühlten Konsumpflicht nachkommt, die durch so manchen Text kontaktiert wird.

Juliette Eröd nimmt sich eine Auszeit bei Subways (Fotocredit Theater im Bahnhof)
Fazit: Die Welt vor Ort bleibt der Kontrapunkt zur versuchten Flucht in die Gedankenwelt
Die zugegebenermaßen sich einstellende Abgehobenheit wird durch die Realität vor Ort immer wieder gebrochen. Vielleicht ist es auch das, was neben der konsequenten Wahrnehmung all dessen, was sich in drei Stunden auf dem Grazer Hauptbahnhof so abspielt, von den Lesungen bleibt: Man ist dort als Zuhörender letztendlich ein Fremdkörper, der weitestgehend ignoriert wird in seiner eigenen künstlichen oder auch künstlerischen Welt der scheinbaren Freiheit. Auch die Lesenden erfahren die Grenzen dieser Freiheit, als zum Beispiel Ed. Hauswirth beim Versuch, in einer Drogerie vor Eyelinern und Lippenstiften zu lesen, aus dieser herausgebeten wird. Nicht nur er kann in diesem Fall der Realität am Bahnhof nicht entkommen – es trifft auch laufend andere Menschen. Wenn man Polizeieinsätze, Kontrollen durch Security und Ähnliches live erlebt, wird einem einmal bewusst, dass man bei seinem Rückzug in eine seltsame Parallelwelt zwar von der Originalen ständig beobachtet wird, aber dennoch zum privilegierten Teil dieser gehört. Vor allem, wenn Helmut Köpping, einen Menschen vor sich betrachtend, sich fragt, ob das alles, was dieser in ein paar Säcken bei sich trägt, auch alles ist, was dieser Mensch besitzt, kann man sich selbst, einen Kopfhörer tragend und Texten lauschend, auch schon einmal fragen: „Was tue ich hier eigentlich?“

Juliette Eröd, Monika Klengel und Martina Zinner in der Bahnhofshalle (Fotocredit Theater im Bahnhof)
„Lesehalle der Gefühle“ als ausdauernde Leseperformance vom Theater im Bahnhof im Grazer Hauptbahnhof
Chronik:
Donnerstag, 18. Dezember: „Leidenschaft überwältigt das Verständnis. Verständnis tötet Leidenschaft“ mit Juliette Eröd, Lorenz Kabas, Monika Klengel, Martina Zinner und Felix Klengel als Sänger und Musiker
Freitag, 19. Dezember: „Verfallserscheinungen der Macht: Ordnung, Krieg und Katastrophe“ mit Jacob Banigan, Pia Hierzegger, Eva Hofer, Mathias Lodd und Nick Acorne als Sänger und Musiker
Samstag, 20. Dezember: „Die Erde ist bezaubernd schön, doch sicher ist sie nicht.“ mit Ed. Hauswirth, Monika Klengel, Elisabeth Holzmeister, Helmut Köpping und Herwig Thelen als Sänger und Musiker
Regie: Ed.Hauswirth
Dramaturgie: Eva Hofer
Ausstattung: Johanna Hierzegger
Technik: Moke Rudolf-Klengel, Armin Sauseng, Claudia Holzer, Martin Schneebacher
Produktionsleitung: Christina Romirer

Monika Klengel souverän von oben (Fotocredit Theater im Bahnhof)
