Ein Horváth-Abend der kontrollierten Töne
Kritik: Der jüngste Tag, Schauspielhaus Graz
Text: Sigrun Karre - 15.12.2025
Ein stark auftretendes Ensemble, ein düster-elegantes Setting, Horváths „Der jüngste Tag“ am Schauspielhaus Graz bleibt ein Abend der leisen Töne: sorgfältig inszeniert, aber ohne Risiko.

Kaspar Simonischek (c) Lex Karelly
Sorgfalt statt Reibung
Regisseur David Bösch, bekannt für seine psychologisch durchdrungenen, oft kontemplativen Arbeiten, nähert sich Horváths Sittenstück mit großer Sorgfalt – und einer beinahe ehrfürchtigen Zurückhaltung. Gerade diese Haltung scheint jedoch zum größten Hindernis des Abends zu werden: Sie lässt wenig Raum für Reibung, Überraschung oder szenische Zuspitzung.
Patrick Bannwarts Bühnenbild bleibt in seiner eleganten Derangiertheit klassisch: eine düster kreisende Drehbühne, dezent umspielt von Licht und Nebelschwaden. Die Atmosphäre erinnert an einen sorgfältig komponierten Schwarzweißfilm – stimmig, aber selten irritierend. Auch Anton Oswalds Lichtgestaltung bleibt stimmungsvoll im Dienst der Szene, ohne eine eigene Sprache zu entwickeln. Moana Stembergers Kostüme verorten die Figuren plausibel im Alltäglichen, entscheiden sich aber für das Naheliegende, nicht für den Ausdruck. Die Musik von Daniel Feik – sparsam eingesetzt – schafft atmosphärische Brücken, bleibt jedoch meist im Hintergrund, fast wie ein vorsichtig gehauchtes „bitte nicht stören“.
Die Entscheidung, keine ablenkenden Akzente zu setzen, sondern ganz auf Text und Spiel zu vertrauen, ist nachvollziehbar – birgt jedoch die Gefahr der Monotonie. Man bekommt den Eindruck, dass die Regie den Schauspieler:innen den Raum überlässt – den diese zwar mit großer Präsenz und Hingabe füllen, aber nicht immer mit dramaturgischer Dynamik aufladen können.

Ensemble (c) Lex Karelly
Schauspieler:innen als tragendes Fundament
Und das ist schade. Denn gerade das Ensemble ist die große Stärke des Abends. Sehr gut gefällt Miriam Maertens, die gleich doppelt überzeugt: Als Frau Leimgruber, die wendehalsige Dorftratsche, wird sie zur Stimme provinzieller Gereiztheit und Selbstgerechtigkeit– herrlich zwischen Satire und bitterem Ernst balancierend. Auch als Frau Inspektor zeigt sie Haltung und vermittelt einen herben Charme, der entfernt an eine ORF-Landkrimi-Kommissarin erinnert.
Thomas Kramer spielt den Bahnhofs-Vorstand Thomas Hudetz als innerlich (und zunhemend auch äußerlich) zerrissenen, linkischen Mann – tastend und schuldbeladen. In jedem Zögern liegt hier mehr Drama als in manchem Monolog. Luise Schwab als Anna, die Wirtstochter, verleiht der Figur einer jungen Frau zwischen Verlangen und Verantwortung eine abstoßend-anziehende Ambivalenz. Anna Rausch zeichnet die verhärtete Ehefrau Josefine Hudetz als kontrollierte Außenseiterin, die sich mit geradezu pathetischer Strenge in ihrer Opferrolle einrichtet.
Tim Breyvogel als Alfons, der kauzige Bruder, bringt schräge Zwischentöne und gewinnt Sympathie. Marlene Hauser, als Gast diesmal in der Nebenrolle der hemdsärmeligen, girliehaften Kellnerin Leni, zeigt einmal mehr, wie viel Präsenz auch in kleinen Figuren liegen kann.
Oliver Chomik als Fleischhauer Ferdinand, Annas Verlobter, spielt einen simplen Kraftlackel mit butterweichem Kern. Franz Solar wiederum gibt den Dorfwirt als explosive Figur: jähzornig und schneidend scharf, aber nicht eindimensional.
Und dann ist da noch Kaspar Simonischek in einer fein abgestimmten Doppelrolle: Als Heizer solide, als Vertreter eine kleine Sensation. Haltung, Mimik, Rhythmus – eine durchdachte Typenzeichnung, die zwischen Grobheit und feiner Komik changiert.
Das gesamte Ensemble agiert mit hoher Konzentration und großer körperlich differenziertem Spiel – eine schauspielerische Leistung, die nicht genug gewürdigt werden kann. Immer wieder findet das Spiel Momente der Komik, die fast grotesk wirken – eine tragikomische Zuspitzung, die der Inszenierung eine leichte Ironie verleiht, wo bleierne Dramatik drohen könnte.

Marlene Hauser (c) Lex Karelly
Stück mit begrenztem Resonanzraum
Die Geschichte des pflichtbewussten Bahnhofsverwalters Thomas Hudetz, der durch einen Moment der Ablenkung eine tödliche Kollision zweier Züge verursacht, und der in der Folge in einem Dorf aus Schuld, Gerüchten und Verdrängung zerrieben wird, ist in ihrer moralischen Fallhöhe klar konstruiert – und bleibt doch überraschungsarm. Gemeinsam mit Dramaturg Male Günther entwirft die Inszenierung eine Horváth-Lesart, die sich auf feine Zwischentöne konzentriert, doch wirklich zwingend wird diese Horváth-Neulesart nie.
Die Partyszene nach Thomas Hudetz’ Entlassung aus der U-Haft kippt ins Klamaukhafte – ein Bruch, der den Abend kurzzeitig aus seiner stilistischen Balance bringt. Auch der metaphysische Überbau des Stücks, der sich gegen Ende stärker bemerkbar macht, wirkt auf der Bühne nicht immer glaubwürdig, sondern streckenweise seltsam pathetisch.
Der jüngste Tag gehört nicht zu Horváths stärksten Texten: Weniger sozialkritisch, weniger psychologisch durchdrungen als seine bekannteren Stücke, wirkt er aus heutiger Sicht strukturell schlichter und in seiner Tiefenschärfe weniger prägnant – eine Einschätzung, die gewiss nicht alle teilen. Die Inszenierung begegnet dieser Herausforderung mit äußerster Sorgfalt; das gewählte alternative Ende lässt sich auch als Versuch lesen, den dramaturgischen Herausforderungen dieses Textes zu begegnen.

Thomas Kramer, Miriam Maertens, Franz Solar, Luisa Schwab (c) Lex Karelly
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