Female Heritage bei La Strada 2025 im Naturkundemuseum in Graz
Kritik: Den Blick über die Schulter werfen, Kunstlabor Graz
Text: Sigrun Karre - 31.07.2025
Rubrik: Theater
Über die weibliche Schulter, mitten ins Herz ließ das Community-Art-Projekt des Kunstlabors Graz am 30. Juli im Naturkundemuseum des Universalmuseums Joanneum blicken. Der Raum wurde zum Resonanzraum für weibliches Erbe aus der Dachsteinregion – hörbar gemacht mit leisen, eindringlichen Stimmen.
Es beginnt mit einem Berg. Oder besser: mit seinem Miniatur-Double. Im Reliefraum des Naturkundemuseums Graz, wo Höhenlinien akkurat verlaufen und Geografie zu einem musealen Stillleben wird, entfaltet sich ein anderes Gelände: eines aus Erinnerungen, Stimmen und Erschütterungen.
„Über die Schulter blicken“, eine Koproduktion des Kunstlabors Graz mit dem Festival La Strada, führt als Stationenwalk durch das Naturkundemuseum – vorbei an Fossilien, Steinsammlungen und Reliefmodellen – hinein in weibliche Lebensrealitäten der Dachsteinregion. Erzählt wird nicht von außen, sondern von innen. Die Geschichten selbst sind kein heimeliges Heimatabend-Programm – auch wenn Vogelbeer-Schnaps gereicht wird. Vielleicht gerade deshalb.

La Strada Graz / Martin Hauer)
Geschichte(n) im Ohr
Die Performerinnen hören ihre Texte live über ein In-Ear-Prompting-System – und sprechen sie direkt aus. Der Text flüstert sich ins Ohr, während er auf der Bühne ausgesprochen wird. Das klingt technisch, führt aber zu einem überraschend rohen Erzählen: kein abrufbares Schauspiel, sondern eine fragile Direktheit. Keine Tricks, sondern ein tastendes Sprechen, wie man es kennt, wenn jemand beim Sprechen erst versteht, was er da sagt. „Von ana Frau wiad schon vül mea awoatet als von am Monn“, sagt eine Stimme. Und eine andere: „Des is hoit so.“ Man kennt sie, diese Sätze, deren stille Bitterkeit man oft überhört – oder überhören möchte.

La Strada Graz / Martin Hauer)
Gletscher, Goldhaube, Gewalt
Eine filmische Passage dokumentiert den Rückgang des Dachsteingletschers – aus der Perspektive einer Frau, die mit dem Eis aufgewachsen ist. Heute ist das, was einst Gletscher war, nur noch Geröll. „Mittlerweil san do Berg, de’s früher gar net geb’n hot“, sagt sie. Es ist nicht nur eine ökologische, sondern eine persönliche Verschiebung: Landschaft als verlorene Heimat, als schmelzende Erinnerung. An einer anderen Station steht eine „echte“ Goldhaubenfrau – und spricht ohne Soufflage oder Stellvertreterfunktion über Sticktechniken, Rituale und soziale Codes. Keine Folklore, sondern textile Geschichtsschreibung. Weibliches Erbe, verewigt in Handwerk, aber noch nicht in Schulbüchern. Daneben: Erzählungen über Küche, Kindheit, „Stoll gehn“ – und Tagwachen um halb Vier. Über Arbeit, die nie als solche anerkannt wurde. „Mia ermöglichen den Männan ia Hobby“, sagt eine Bäuerin über die Nebenerwerbslandwirtschaft – halb schmunzelnd, halb resigniert.
Die letzte Station ist die stillste – und die eindringlichste. Eine alte Frau spricht über die Nachwehen des Krieges, der nicht nur ihre Eltern traumatisierte, sondern auch ihr eigenes Leben prägte. Mitgeformt von dem, worüber nie gesprochen wurde. Ihre Offenheit ist fast erschütternd. Keine große Geste, kein Pathos – nur ein leises Erinnern, das tief geht. Ganz konkret, sehr menschlich.

La Strada Graz / Martin Hauer)
Zwischen Erzählung und Verkörperung
„Über die Schulter blicken“ ist keine dokumentarische Aneinanderreihung von Frauenschicksalen. Es ist ein subtiles choreografisches Vexierspiel zwischen Erzählen und Verkörpern, zwischen Privatem und Politischem. Man hört zu wie einer Freundin oder der Großmutter, die zum ersten Mal von einem Trauma erzählt – und merkt gleichzeitig: Das betrifft mich. Das ist auch mein Erbe. Das Community-Art-Projekt zeigt, dass Female Heritage kein Modethema ist. Es macht spürbar, wie sehr weibliche Perspektiven fehlen – und wie viel sie beitragen können, um zu verstehen, was ist. Und wer wir sind.
Darstellerinnen: Fabia Matuschek, Selina Rudlof, Inge Pass-Kosmath, Madeleine Lissy, Sissi Noe, Verena Hirmann, Clara Loidl, Regina Stocker
Regie: Neda Sokolovska
Regie-Assistenz: Jasmin Karami
Produktion: Edith Draxl