Kritik: Ballett, Sacre!, Oper Graz

Klimakatastrophe im Samtdirndl
Der erste Teil, Fieber, arbeitet mit den Musikstücken Prélude à l’après-midi d’un faune von Claude Debussy und Maurice Ravels Ballettsuite Ma mère l’oye. Die Tänzer:innen betreten die Bühne nicht unbedingt in hautengen, sondern in hautfarbenen Trikots. Die Bühne selbst, von Katja Lange sehr spartanisch gestaltet, erhält durch das geschickte Lichtkonzept von Johannes Schadl die passende düster-zwielichtige Atmosphäre. Das behutsame Schlottern der beigefarbenen Kostüme an den Körpern der Performer:innen verleiht ihnen einen Ausdruck von Fragilität, aber auch kindlicher Verwundbarkeit. Eine Art dreidimensionaler und fahrbarer Erdkrater, der auch eine überdimensionale Auster sein könnte, bildet nach wenigen Szenen den Mittelpunkt der Bühne. Auf diesem tanzen, krabbeln und liegen die Tänzer:innen kopfüber, regungslos hingegossen. Sie sehen aus wie elegante Amöben unter dem Mikroskop, bilden organische Menschenformen in perfekt getanzten Formationen und Kombinationen. Nach und nach zieht sich die gesamte Truppe samtene Kurzdirndl über die beigen Flatteranzüge, was bedrohliche Assoziationen mit Nationalismus und falsch verstandener Heimatliebe aufkommen lässt. Die raffinierten Kostüme stammen ebenfalls vom Choreographen Louis Stiens, der die Ballettklassiker der Moderne mit Erdbeben und Klimakatastrophe verbindet.

Völlig anders gestaltet sich der zweite Teil des Abends, inszeniert vom kubanischen Choreographen George Céspedes. Erd- und Sandfarben in pragmatisch-praktischen Schnitten (Judith Adam) dominieren hier die Kostüme, und auch Bühne, Farb-, Licht- und Nebeleffekte (Katja Lange, Markus Schwarz) bleiben ohne viel zusätzliche Ausstattung schlicht. Zu Sacre du printemps von Igor Strawinsky stürmen die Tänzer:innen die Bühne und bieten den Zuseher:innen eine Melange aus bekannten Ballett-Moves, Capoeira, Breakdance und Akro-Yoga. Neben den unglaublichen Tanzleistungen, bei denen einem schon vom Zusehen der Schweiß auf die Stirn tritt und der Atem stockt, glänzt die Truppe mit schauspielerischer und expressiver Höchstleistung. Ebenso energetisiert und dynamisch: das Philharmonische Orchester Graz unter der Leitung von Chefdirigent Vassilis Christopoulos. Standing Ovations, Jubel und ein Sturm der Begeisterung erscheinen nach diesem kurzen, aber enorm intensiven Abend voller sinnlicher Inspiration in der Oper Graz mehr als logisch. Ein Pflichttermin für alle, die modernes Ballett lieben oder es lieben lernen möchten.

Sacre! Zweiteiliger Ballettabend in der Oper Graz

Besetzung:

Musikalische Leitung: Vassilis Christopoulos (Okt: 30, 31, Nov: 3, 9, 15, 17, 29, Dez: 11) / Johannes Braun (Feb: 7, 8, 28)
Choreographie: (Le Sacre du Printemps): George Céspedes
Choreographie: (Fieber): Louis Stiens
Bühne: Bettina Katja Lange
Kostüme: (Fieber): Louis Stiens
Kostüme: (Le Sacre du Printemps): Judith Adam
Licht: (Fieber): Johannes Schadl
Licht: (Le Sacre du Printemps): Martin Schwarz
Soundkomposition: (Fieber): Anni Nöps
Dramaturgie:: Dirk Elwert / Mattia Scassellati
es tanzt: Ballett Graz