Schrulliger Mikrokosmos einer Musikstadt, Philipp Jedicke

FilmKritik: Vienna Calling

Text: Lydia Bißmann - 08.08.2023

Rubrik: Film

Vienna Calling (2023) feiert am 25. August Österreichpremiere im Leslie Open.(Credit: Max Berner)

Der Liebreiz alter Opas

Vienna Calling ist eine Liebeserklärung des deutschen Regisseurs Philipp Jedike an die Musikstadt Wien und seine Bewohner*innen. Es ist kein Musikfilm mit Archivbildern und Talking Heads, wie man ihn kennt – Vienna Calling ist ein poetischer Essay, der fantasievoll mit der Wahrheit spielt. Der Regisseur wollte sich nicht durch Tonnen von Archivmaterial wühlen, sondern lieber selbst drehen. Entstanden ist dabei ein rührendes, kraftvolles, absurd-komisches und hoffnungsvolles Porträt einer Künstler*innengeneration. Die Protagonist*innen von Vienna Calling, die gar nicht mehr so terriblen, aber enorm schrulligen Enfants der österreichischen Kunstszene wie der Nino aus Wien, Voodoo Jürgens, Lydia Haider, Stefanie Sargnagel oder EsRap erzählen nicht unbedingt über sich selbst. Sie hirnen im Film lieber über einen neuen Haarschnitt, mehr Gesundheit im Leben oder den Zustand der Gäste der unterirdischen Geburtstagsfeier, deren komplizierte Ausrichtung dem Film einen losen Rahmen verleiht, als über ihre Karrieren. Diese können sich aber durchaus sehen lassen und haben die Gefilde der Subkultur und des Undergrounds eigentlich schon verlassen. Geblieben ist die ostentative Nonchalance, mit der sie ihre Shows meistern und ein sehr eigener, sehr wienerischer Zugang zum Leben samt seinen Widersprüchen. Die erklärten Feindbilder von alten, weißen Männern hassen sie nicht weniger leidenschaftlich zurück und tragen dabei trotzdem den Witz und die Weisheit von liebenswerten Opas mit sich herum.

Der Nino aus Wien (Credit: Didi Lipkovich)

Hipsterfreie Romantik des Undergrounds

Vienna Calling erzählt in einer Art Momentaufnahme von Wiener Musiker*innen, kommt aber selbst wie ein Musikvideo daher, das sich vielleicht etwas mehr Zeit lässt, deswegen aber nicht weniger Spannung in sich trägt. Bilder, die mehr an Arthouse Produktionen erinnern, inszenieren den Donaukanal, kleine Kultbeisl wie das Schmauswaberl und bekritzelte Wände gebührend charmant und erfrischend hipsterfrei. Der Film lief bei der Diagonale’23 und feiert am 25. August seine Österreichpremiere im Leslie Open mit einem Konzert von Der Nino aus Wien. Philipp Jedike ist freischaffender Journalist und Regisseur. Er hat in Kanada und Frankreich gelebt und seit 2001 in Köln eine Heimat gefunden. In seinem ersten Langfilm “Shut Up and Play the Piano “ über den Ausnahmemusiker Chilly Gonzales tummelten sich internationale Stars wie der Pianist selbst, die Sängerin Peaches, Jarvis Cocker, Jerry Feist oder die Autorin Sibylle Berg. Vienna Calling, AT Regie: Philipp Jedicke, Buch: Philipp Jedicke, Darsteller*innen: Voodoo Jürgens, EsRaP, Der Nino aus Wien, Lydia Haider, Gutlauninger, Kerosin95, Samu Casata. Kamera: Max Berner, Schnitt: Carina Mergens, Max Berner, Originalton: Ken Rischard, Flora Rajakowitsch, Musik: Paul Gallister, Sounddesign: Andreas Hildebrandt, Kostüm: Olivia Weigelt, Weitere Credits: Executive Producer: Julian Berner, Produzent*innen: Alexander Dumreicher-Ivanceanu, Bady Minck, Arne Birkenstock, Sebastian Lemke, Produktion: AMOUR FOU Vienna. Koproduktion: Fruitmarket (DE).

Regisseur Philipp Jedicke. (Credit: Sergej Gavrilovic)