Discomärchen als Parabel auf das Warten, Patric Chiha
Filmkritik: Das Tier im Dschungel
Text: Lydia Bißmann - 23.03.2023
Rubrik: Film und Kino
Mit ergreifend schönen Bildern, Kostümen und Musik erzählt Patric Chiha in seinem Film "Das Tier im Dschungel" eine Geschichte, die eigentlich keine ist. Der fünfte Film des österreichischen Regisseurs ist an die Short Story "The Beast in the Jungle"von Henry James angelehnt und lässt die Geschichte über das gemeinsame Warten auf bessere Zeiten knapp hundert Jahre später in einem Pariser Club spielen.
Wie bei Samuel Becketts “Warten auf Godot” verbringt hier das Protagonisten-Pärchen May und John (Anaïs Demoustier, Tom Mercier) ganze 25 Jahre damit, in einem Tanzetablissement auf ein spezielles Ereignis zu warten. Anders als Estragon und Wladimir wissen die beiden aber gar nicht, worauf. Auf ein spektakuläres Ereignis, das aus John, den nerdigem Eigenbrötler, der inmitten des schillerndsten Clubgetümmels, das man sich vorstellen kann, nicht tanzt und stolz darauf ist, etwas ganz Besonderes machen soll. Jeden Samstag kommen sie in den Club, der vorerst keinen Namen trägt. Probleme mit Commitment haben auch die beiden, die als platonisches, aber deswegen nicht weniger besitzergreifendes Paar ab 1979 durch die Zeitgeschichte schweben. May wirkt in ihren Prinzessin-Kleidern wie ein eiskaltes Schneewittchen, dem die Zwerge fehlen. Und auch sonst mangelt es nicht an Märchen-Referenzen bei “Das Tier im Dschungel”.
Credit: Elsa Okazaki
Märchen-Motive und Musikmetamorphose
Die allwissende und kluge Türsteherin (Béatrice Dalle) sieht mit ihrem Kapuzencape nicht nur wie eine böse Stiefmutter aus, sondern ist tatsächlich eine, wenn auch eine von den guten. Yacine (Bachir Tlili) schenkt May zu ihrem 25. Geburtstag funkelnde High Heels – bei einem Spaziergang draußen erscheint auf einmal der goldene Vorhang des Clubs vor May und John, um sie wieder von der Außenwelt wegzubringen. Beide altern nicht, obwohl im Hintergrund die Linken in Frankreich mit Mitterrand die Wahlen gewinnen, Aids die Tanzflächen leer fegt oder die Berliner Mauer fällt, während sich die Musik von Disco über New Wave zu Techno verformt. Wie bei Oskar Wildes Dorian Gray sucht man auch bei John und May die Herzenswärme vergebens.
Credits: Aurora Films
Eiskaltes Herz als Anti-Aging-Geheimnis
Während eine durch Liebe und Lust übertragene Epidemie tiefe Gräben in die queere Clubszene reißt, kotzt May ins Waschbecken, da sie vor Eifersucht auf Johns Freundin (“ich dachte, er wäre der einsamste Mensch der Welt”) seit einer Woche säuft. Mitgefühl findet sich nur bei den Nebendarsteller*innen wie bei der atemberaubend schönen und zum Dahinschmelzen vitalen Alice (Sophie Demeyer), die nicht nur den Club mit Leben erfüllt, sondern auch jenseits davon eines als Mutter und Grafik-Designerin führt. Belohnt werden sie und Mays loyaler Ehemann Pierre (Martin Vischer) dafür mit der Patina des Lebens: mit Falten und lichtem Haarwuchs, der sich nach zweieinhalb Jahrzehnten eben einstellt. Zum Schluss erhält der Club doch einen Namen, aber John, der seine Umzugskartons in 25 Jahren immer noch nicht ausgepackt hat, darf nicht mehr hinein, da er zu alt dafür geworden ist. Erst am Grab von May fühlt er etwas wie Regung oder Emotion. Ob das jenes “spektakuläre Ereignis" ist, auf welches er sein Leben lang gewartet hat, weiß man nicht.
Credit: Elsa Okazaki
DIY-Story mit malerischer Oberfläche
Das Tier im Dschungel, das in Brüssel, Paris und Wien gedreht wurde, hat aber keine moralische Botschaft. Die großzügig gestaltete Handlung ist nach allen Seiten hin offen und flexibel deutbar. Das wahnsinnig schöne Sound- und Bildgewebe lebt von mehr von prägnanten Handlungsakten als von Dialogen, besticht durch sorgfältig gezeichneten Nebenfiguren und vermittelt vor allem eines: das Gefühl des ewigen Wartens und Suchens in einem Club. Auf den nächsten Track, Freunde, Feinde, Drogen, die Wirkung von Drogen oder die Afterhour bei Sonnenaufgang. Die Sehnsucht nach etwas Anderem, nach etwas Besserem, die einen immer irgendwie packt, obwohl man sehr viel Mühe, Zeit und Geld dafür aufgewendet hat, um überhaupt hierherzugelangen. Das spontane und aber auch chronische Gefühl von Einsamkeit, umgeben von der Energie anderer tanzender Menschen, das diese auslösen, aber gleichzeitig auch heilen können.
Das Tier im Dschungel wurde bei der Berlinale 2023 uraufgeführt und lief das erste Mal in Österreich bei der Diagonale 2023 im März. Es ist ein Pflichtfilm für Musikfans, leidenschaftliche Clubgeher*innen, und alle, die die pragmatische Melancholie des französischen Kinos schätzen.
Das Tier im Dschungel, Spielfilm, AT/FR/BE 2023, digital, 103 min.