Das Grazer Festival Cirque Noël verzaubert zur Weihnachtszeit

Ein Blick in das Innerste der Zirkusseele

Text: Julia Braunecker - 02.12.2022

Rubrik: Theater

ravity & Other Myths/ John Fisher

Der Weihnachtszirkus „Cirque NoĂ«l“ feiert heuer sein 15-jĂ€hriges Bestehen und holt dafĂŒr internationale Spitzenproduktionen ins Grazer Orpheum. Intendant Werner Schrempf erklĂ€rt, was sich hinter der Körperkunst in Perfektion verbirgt und warum der Neue Zirkus das Publikum besonders in Krisenzeiten ermutigen kann.

Mit spielerischer Leichtigkeit bildet die Companie „Gravity & Other Myths“ eine mehrstöckige Menschenpyramide, in schwindelerregender Höhe wirbeln Körper durch den BĂŒhnenraum. „Zu zeigen, was der Mensch mit Ausdauer alles erreichen kann, macht Mut“, sagt Werner Schrempf beim Anblick der australischen BewegungskĂŒnstler, die lĂ€ngst zu den StammgĂ€sten von „La Strada“ zĂ€hlen. Das Straßentheaterfestival feierte in diesem Sommer sein 25. JubilĂ€um in der Grazer Innenstadt. Sein winterliches Pendant, der „Cirque NoĂ«l“, ging vor 15 Jahren erstmals ĂŒber die BĂŒhne. GrĂŒnder, Intendant und GeschĂ€ftsfĂŒhrer beider Festivals ist der Grazer Werner Schrempf. Er ist das viertĂ€lteste von fĂŒnf Geschwistern und vergleicht die Entwicklung seiner Festivals gerne mit dem Lebensalter eines Menschen. „Mit 15 bzw. 25 Jahren hat man die Jahre des Zurechtfindens hinter sich. Man ist bereit, Verantwortung zu ĂŒbernehmen und raumschaffend zu sein.“

Ohne Verantwortung kein Vertrauen

Verantwortung ist fĂŒr Werner Schrempf ohnehin ein Kernmotiv. „Wir laden unsere KĂŒnstler nicht nur fĂŒr Auftritte ein. Wir sind produzierende Festivals. Oft sind wir schon beim ersten Casting, bei der allerersten Probe dabei“, sagt er. Durch die langjĂ€hrige Kooperation hat sich Schrempf das Vertrauen auf Seiten der KĂŒnstler erarbeitet und ein weltweites Netzwerk geknĂŒpft, das bis nach Australien und Nordamerika reicht. Erst unlĂ€ngst kehrte er von einem Treffen aus Kanada zurĂŒck. „Montreal ist der Hotspot fĂŒr den zeitgenössischen Zirkus. Neben mehreren Creationcentern gibt es hier auch eine universitĂ€re Ausbildung fĂŒr junge Artisten", schwĂ€rmt er. Schrempfs Augen funkeln, wenn er ĂŒber seine Leidenschaft, den zeitgenössischen Zirkus, spricht. „Der Zirkus war schon immer ein fantastischer Ort. Er liefert den Menschen Zerstreuung.“ Doch der Intendant suchte schon frĂŒh nach einem neuen Weg fĂŒr das traditionelle Veranstaltungsformat. KĂŒnstlerinnen und KĂŒnstler des zeitgenössische Zirkusproduktionen greifen Elemente des Klassischen Zirkus auf und interpretieren diese neu, erzĂ€hlen Geschichten und setzen sich mit aktuellen Fragestellungen auseinander. Entgegen dem landlĂ€ufigen Optimierungstrend, dass Veranstaltungen immer spektakulĂ€rer sein mĂŒssen, um sich der Aufmerksamkeit des Publikums sicher zu sein, setzt Schrempf auf Nachhaltigkeit und IndividualitĂ€t: „Unsere KĂŒnstler sind nicht austauschbar, sie verstecken sich nicht hinter einer Maske oder in einem KostĂŒm. Ihre Persönlichkeiten spielen eine tragende Rolle auf der BĂŒhne.“ Vom mechanischen Aneinanderreihen von Tricks hĂ€lt er nichts. „Wir versuchen einen anderen Weg zu gehen“, sagt er. „Wir wollen dem Publikum einen Blick in das Innerste der Zirkusseele gewĂ€hren.“ Aus diesem Grund fokussiert sich das Zirkusprogramm des Cirque NoĂ«l stets auf die Artisten, deren phĂ€nomenale Körperbeherrschung und die Geschichten, die beim Publikum spĂŒrbar werden. „Wir möchten die Menschen auch ein StĂŒck weit herausfordern. Wir wollen nicht nur das Vorhandene bedienen. Wir haben ja auch kein ewiges Leben“, so Schrempf.

Internationale Spitzenproduktionen zu Gast in Graz

In diesem Winter holt der Cirque NoĂ«l drei Produktionen ins Orpheum Graz. FĂŒr den Auftakt am 21. Dezember sorgt die spanische „Compania de Circo Eia“, in der sich sechs spanische Artisten mit dem GefĂŒhl der UnvollstĂ€ndigkeit auseinandersetzen. Ab dem 25. Dezember steht dann die fast 70-jĂ€hrige Clown-Legende Gardi Hutter aus der Schweiz auf der BĂŒhne. Ihre Produktion „Gaia Gaudi“ widmet sich den Themen Leben und Tod sowie dem Wechsel der Generationen. Vom 3. bis zum 8. JĂ€nner sorgen „Gravity & Other Myths“ mit der Produktion „Out of Chaos“ fĂŒr ein atemberaubendes Finale. Auch Workshops bietet der Cirque NoĂ«l an. FĂŒr wen ist ein Besuch im Winterzirkus das Richtige? „Es ist wunderschön, wenn mehrere Generationen gemeinsam in die Vorstellung kommen“, antwortet Schrempf. Und jeder findet seinen eigenen Zugang zur Geschichte. Denn Schrempf scheut auch die Auseinandersetzung mit kritischen Themen nicht: „In unseren Produktionen gehen wir Fragen nach wie: Was beschĂ€ftigt die Gesellschaft? Wie gehen wir miteinander um?“ Als Beispiel nennt er ein Projekt des kanadischen KĂŒnstlerkollektivs „The 7 Fingers“, das derzeit entsteht und im nĂ€chsten Jahr zum Cirque NoĂ«l kommen soll. Die Artisten bringen die politische Spaltung, die aktuell auf dem gesamten Globus zu beobachten ist, in einer Abwandlung von Shakespeares Tragödie „Romeo und Julia“ auf die BĂŒhne. „Im Zentrum stehen zwei Familien, die aufeinanderprallen und am Ende das Wesentlichste zerstören, das sie haben, nĂ€mlich ihre eigenen Kinder."

„Kunst muss anecken dĂŒrfen“

Widerspricht das kritische Hinterfragen nicht dem BedĂŒrfnis der Menschen nach Ablenkung vom Alltag? „Sich unterhalten lassen zu wollen ist ein legitimer Wunsch“, antwortet Schrempf. „Aber Kunst muss Lust machen und anecken dĂŒrfen. Sie soll nicht langweilig sein“, ist er ĂŒberzeugt. „Außerdem bietet das Theater oft Lösungen an, indem es uns auf die wesentlichen Themen des Menschseins hinweist.“ Und das seien eben Liebe und Vertrauen. „Bei einem dreifachen Salto muss der Akrobat darauf vertrauen können, dass ihn der andere auffĂ€ngt“, erklĂ€rt Schrempf und erzĂ€hlt von der Produktion „The Pulse“, welche im Sommer bei La Strada zu sehen sein wird. 24 Artisten und 24 Chormitglieder werden gleichzeitig auf der BĂŒhne der Oper Graz stehen. „Über die Körper wird in den Choreografien erzĂ€hlt, dass sich am Ende alles auf das Miteinander – eben auf ‚The Pulse ‘ reduziert. Dass wir als Schwarm mehr erreichen können als der Einzelne, der in seiner eigenen Welt zurĂŒckgezogen lebt und dann am Ende vielleicht in eine Situation kommt, in der er das Außen nur mehr als Verschwörung gegen den Einzelnen wahrnimmt“, so Schrempf. FĂŒr die Zukunft von „La Strada“ und „Cirque NoĂ«l“ hat sich der Grazer ehrgeizige Ziele gesetzt. „Was uns vorschwebt, ist die Etablierung eines Kreationszentrums fĂŒr performative KĂŒnste in Graz. Junge KĂŒnstler sollen Produktionen unter guten Bedingungen entwickeln und sie so aufbereiten können, dass sie damit international erfolgreich sind.“ Die Entwicklungsphase beziffert Schrempf mit fĂŒnf Jahren, wobei man natĂŒrlich von den wirtschaftlichen VerĂ€nderungen in der Zukunft abhĂ€ngig sei. Bis es so weit ist, will der Grazer weiter die junge KĂŒnstlerszene fördern. Was sich Schrempf außerdem wĂŒnscht, ist mehr Inklusion in Kulturbetrieben. „Nach wie vor werden viele Menschen ausgegrenzt. Wir mĂŒssen den Menschen zuhören und ihnen Fragen stellen. Das sind Dinge, die KĂŒnstler gut können und die wir als Kuratoren ernst nehmen sollten.“