War Requiem - Sterbemesse zum Auftakt

Nachgefragt: Roland Kluttig, Oper Graz

Text: Lydia Bißmann - 05.09.2022

Rubrik: Theater

Roland Kluttig, Chefdirigent der Oper Graz (Foto: C. Licht)

Am 10. September wird die Saison 22/23 in der Grazer Oper mit dem traditionellen Eröffnungskonzert eingeläutet. KUMA hat sich mit Chefdirigenten Roland Kluttig über die Besonderheiten des Programms unterhalten.

Das Eröffnungskonzert am 10. September soll wie jedes Jahr das Programm der neuen Saison widerspiegeln. Meer, Krieg und nicht zuletzt die Liebe spielen dabei eine Rolle. Können Sie die Verbindung der Stücke zueinander erklären?

Brittens „Four Sea Interludes“ und Strauss‘ „Vier letzte Lieder“ sind Reaktionen auf den 2. Weltkrieg und die ungeheure Verwüstung, die er über Europa gebracht hat, ohne dass sie direkt darauf anspielen. Bei Britten spielt die Entstehung der Gewalt in einer dörflichen Gemeinschaft eine Rolle. Strauss singt einen Hymnus auf die Liebe und die verlorenen Schönheiten. Der zweite Teil des Programms nimmt einerseits Bezug auf unseren tschechischen Schwerpunkt in der Saison 2022/23 mit Produktionen von Werken Smetanas und Janáčeks, andererseits bildet die Bedeutung der Glocken als Zeichen der Andacht, des Jubels oder auch als Alarmglocken eine klangliche Verbindung zwischen Britten, Janáček und dem großartigen Werk „Blue Bells – Bell Blues“ von Martin Smolka, dass sich der Faszination des Glockenklangs ganz direkt widmet. Janáčeks „Sinfonietta“ ist mit ihren 24 Blechbläsern auch ein Hymnus auf das Leben.

(Credit: M. Borgreve).

Die Eröffnungspremiere der heurigen Saison wird das „War Requiem“ von Benjamin Britten sein. Ist es nicht ein wenig ungewöhnlich, den Auftakt einer Opernsaison mit einer Sterbemesse zu begehen?

Das ist sicher ungewöhnlich, hängt aber vor allem mit der Besonderheit des Projektes zusammen. Es war ursprünglich schon vor zwei Jahren geplant und musste wegen Corona verschoben werden. Jetzt bekommt es leider auch noch einen tagesaktuellen Bezug wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine.

Was ist das Besondere am War Requiem und was unterscheidet es von anderen Oratorien oder Sterbemessen?

Das War Requiem bezieht sich direkt auf die Kriege und die Toten der Kriege. Britten war sich der Gefahr bewusst, dass eine reine Totenmesse die persönliche Betroffenheit immer auch auf Distanz hält und hat deshalb zwischen die lateinischen Abschnitte Texte des im 1. Weltkrieg gefallenen englischen Lyrikers Wilfred Owen montiert.

Wie kann man ein Requiem szenisch auf einer Opernbühne vorstellen? 

Durch die Texte von Wilfred Owen und die zwei unterschiedlichen Gruppen, zwischen denen das Werk aufgeteilt wird: einmal Sopran, Chor und großes Orchester und auf der anderen Seite Tenor, Bariton und Kammerorchester (eine dritte Gruppe bildet der Kinderchor mit der Orgel), so entsteht eine ohnehin schon dem Werk innewohnende Dramatik. Die zwei Solisten, die ja als Stimmen des Dichters reale Soldaten darstellen, greifen die öffentliche Staatstrauer ja schon im Stück an. Auf diesem Konflikt wird unsere Interpretation aufbauen, mehr möchte ich da noch nicht verraten.

Liebe, Glocken und der Krieg sind Themen, die sich durch die kommende Spielzeit in der Oper ziehen. (Credits: Oliver Wolf)

„The poetry is in the pity … All a poet can do today is warn“ schreibt der Soldaten-Dichter Wilfred Owen, dessen Anti-Kriegs-Gedichte im „War Requiem“ gesungen werden. Seit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine gibt es viel Diskussion um die Rolle von Künstler:innen in einer politischen Debatte. Ist es Pflicht oder Kür von Kunstschaffenden, Stellung zu beziehen?

Owen beschreibt das Dilemma sehr genau. Einerseits kann man von niemandem verlangen, Stellung zu beziehen und ich finde auch den Druck, der da medial aufgebaut wird, bedenklich.  Interessanterweise hatte auch Britten sich geweigert, auf den Einmarsch der Sowjets in Prag 1968 mit einer Protestnote zu reagieren, da er seine in der Sowjetunion lebenden Freunde – in diesem Falle Galina Wischnevskaja und Msistislav Rostropowitsch – nicht gefährden wollte. Andererseits muss man trotzdem aktiv werden – warnen – also Tendenzen zu erspüren, die zu Gewalt und Krieg führen, ist auch die Aufgabe der Kunst. Man kann heute keinen Tag arbeiten, ohne an das grausame und unmenschliche Geschehen in der Ukraine zu denken – an einen Krieg, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Vorwerfen müssen wir uns alle, dass wir die vorher und gleichzeitig stattfindenden Kriege auf der ganzen Welt meist ausgeblendet haben. Aufgrund der geografischen Nähe und der eigenen Furcht vor der Gewalt einer unberechenbaren Atommacht ist das jetzt alles viel realer. Eine künstlerische Form, sich damit auseinanderzusetzen, wird die Produktion des „War Requiems“ sein.