perspektive - hefte für zeitgenössische literatur

Nachgefragt: Herausgeber Stefan Schmitzer

Text: Sigrun Karre - 17.11.2022

Rubrik: Literatur

Credits: privat

Die perspektive wurden vor 45 Jahren in Bad Ischl gegründet. Wie wurde aus einer Schülerzeitung in der oberösterreichischen Provinz ein Avantgarde-Projekt in Graz?

Sehr kurz erzählt: Wiedererkennbar die heutige Gestalt nahm perspektive Anfang der Neunziger an. Mit Heft 26 (1993) – der „sprachlos“-Nummer – war die Mutation des vormaligen publizistischen Selbsterprobungslabors studentischer Freundeskreise um den letzten verblieben Bad Ischler – Fredi Ledersteger – zu einem Projekt mit anders geartetem Fokus abgeschlossen. Gruppe perspektive beheimatete seitdem, um den Redaktionskern aus Ralf B. Korte in Berlin und Helmut Schranz in Graz herum, zeitweise und in unterschiedlichen Konstellationen Leute, denen ein Interesse an zeitgenössischer Literatur UND literatursoziologischen bzw. -politischen Fragestellungen gemeinsam war, sowie ein Ungenügen daran, dass öffentliches Reden über Texte und Verlags-PR zusehends ununterscheidbar wurden: Leute wie Dieter Sperl, Sylvia Egger, Robert Steinle, Florian Neuner – und viel später, nach Helmut Schranz' Tod 2015, Silvia Stecher, Mario Huber und mich.

Direkt gefragt, was braucht ein Text – u. U. auch in Abgrenzung zu den anderen Grazer Literaturzeitschriften – um in der perspektive veröffentlicht zu werden?

Es hilft natürlich, wenn ein Text, der uns angeboten wird, nicht bereits im Paradigma der sprachlichen Abbildung von Sachen und Gefühlen bruch-, rest- und friktionslos aufgeht. Darin, WELCHE Texte wir nehmen oder nicht, unterscheiden wir uns kaum von den Kolleg:innen in den anderen Redaktionen – die Frage ist viel eher, WARUM wir uns für oder gegen einen Text entscheiden. Wir sind's zufrieden, wenn es gelegentlich gelingt, dass sich die Beiträge einer Ausgabe in aussagekräftiger Weise gegenseitig kommentieren und so, für den Spezialfall des jeweiligen Heftthemas, ein Blick auf das Verhältnis zwischen (den Möglichkeiten der) Literatur und (den Zumutungen der) Wirklichkeit fällt.

Heute gilt in der Literatur, der Sprachkunst: „alles ist erlaubt“, (wo) gibt’s noch echte Progression?

Ich teile die Diagnose nicht, dass in der Literatur und Sprachkunst derzeit "alles erlaubt" sei. Heute greift die repressive Toleranz konsolidierter Märkte viel stärker als in den Kontrollgesellschaften der jüngeren Vergangenheit – selbst Romane wie Döblins "Berge Meere und Giganten" oder Musils "Mann ohne Eigenschaften" wären keiner Agentur und keinem Verlagslektorat unseres Jahrhunderts unbeschadet, "un-optimiert" entronnen. Abweichung von der problemlos einsortierbaren, verschlagwortbaren Form wird viel strenger geahndet als ehedem. Die einzige Sphäre, in der zur Zeit "alles" erlaubt scheint, ist die bloß inhaltliche – womit sich denn auch eine mögliche Antwort auf deine Frage abzeichnet.

Lisa Horvath, Credits: perspektive

Am 29.11. wird die neue perspektive in Graz bei < rotor > präsentiert. Welche Autor*innen bzw. Texte werden im Heft zu finden sein?

Mit Lisa Horvath, Anna Neuwirth, Ralf B. Korte, mir und vielleicht noch einem Überraschungsgast zeigen wir die neue perspektive am 29.11. an zwei Orten her – um 17:00 Uhr im < rotor >, wo es auch eine Führung durch die Ausstellung gibt, und um 19:30 im Forum Stadtpark. Auf knapp 180 Seiten versammeln wir Beiträge von 37 Autor:innen – von den "üblichen Verdächtigen", die dem Projekt schon lange verbunden sind (Clemens Schittko, Sylvia Egger, D. Holland-Moritz, Ariane Hassan …) über bekannte Größen des Betriebs wie Tom Schulz, CRAUSS oder Martin Piekar bis zu Autor:innen, die bislang nicht in perspektive publiziert haben. So freue ich mich z. B. ganz besonders, Texte von Gertrude Maria Grossegger, Anna Neuwirth und Lisa Horvath im Heft zu sehen.

Die perspektive ist ein Projekt mit interdisziplinärem „Forschungsdrang“. Welchen inhaltlichen Link gibt es zur zeitgleich laufenden < rotor >- Ausstellung „Wesen & Kreaturen“?

Die Ausstellungsreihe bildet ziemlich genau, und sehr greifbar, jenen künstlerischen und theoretischen Impuls ab, dem wir uns mit Heft 112|113 kritisch zu nähern versuchten.Die Frage, die uns für dieses Heft umtrieb und mit der sich etwa ein Drittel der Beiträge befasst, ist die Einschätzung der Entlehnung des "Anthropozän"-Begriffs durch die Künste. (Ralf B. Kortes und Sylvia Eggers Beiträge etwa beschäftigen sich mit dem Lyriker und Philosophen Daniel Falb, der diese Entlehnung besonders exponiert vorantreibt.) Das Jahresprogramm des < rotor > nähert sich dem gleichen Theoriekontinent auf andere Weise an. Am Rand eines Symposions in diesem Kontext ergab sich im Mai zwischen Prof.a Judith Laister und mir produktiver Dissens – die anschließende Korrespondenz zwischen uns gibt es im Heft nachzulesen.

Stefan Schmitzer und Ralf B. Korte, Credits: perspektive