Dramatische Aufklärung über Abtreibung im Theater am Lend
Nachgefragt: Anja M. Wohlfahrt & Sophia Barthelmes, VOLL LIEAB
Text: Sigrun Karre - 02.01.2025
Sophia Barthelmes (Text) und Anja M. Wohlfahrt (Regie) beleuchten mit einem Theaterstück über Abtreibungen ein nach wie vor brisantes Thema. Noch bis 18. Jänner zu sehen im Theater am Lend in Graz.
Mit VOLL LIEAB widmet ihr euch dem Schwangerschaftsabbruch. Einerseits ist das Thema sehr privat, andererseits nach wie vor hochpolitisch. Gab es einen konkreten Anstoß für dieses Projekt?
Sophia: Ich fürchte, es gibt jeden Tag zu viele gravierende Anlässe, um über Schwangerschaftsabbruch zu sprechen, auch wenn sie meistens unsichtbar sind. Es gibt – erst einmal unabhängig von verschiedenen Meinungen oder Positionen – viele Falschinformationen über und fast gar keine Informationen zu Abtreibungen. Wie üblich in patriarchalen Gesellschaften wird eher pauschal über Menschen, die abtreiben, geurteilt. Die Komplexität der Entscheidungen scheint gar nicht zu interessieren. Das Zutrauen, dass Frauen wissen, was sie tun, wenn sie eine solche Entscheidung treffen, gibt es nicht – ein Umstand, der aber nicht reflektiert wird. Ganz abgesehen davon, dass es dieses "Zutrauen" nicht braucht, weil es bevormundet und Frauen ein Recht auf freie Entscheidung haben. Stattdessen will ein – meist männlicher – jemand wissen, was recht oder unrecht, richtig oder falsch ist. Wie immer gibt es keine pauschalen Antworten.
Das Thema ist komplex, die Gefühle sind komplex, die Situationen sind komplex – aber die politische Situation, dass ungewollt schwangere Menschen eine vernünftige Unterstützung bekommen, kommt gar nicht vor! Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll, vor lauter Missständen, beim Thema Schwangerschaftsabbruch. Und das gilt leider für die meisten Länder auf diesem Planeten. Es ist einfach schade, dass so viele Menschen, hauptsächlich Frauen, übergangen werden und über sie bestimmt wird; dass sie allein gelassen werden, in schwierigen Strukturen. Die weltweit wieder zunehmende Misogynie wird sich an Abtreibungsgesetzen deutlich zeigen und tut es schon. Abtreibungen finden statt. Die Frage ist, wie viele Frauen an unsicheren Abtreibungen sterben müssen. Das allein ist Ausdruck frauenfeindlicher, machistischer Politik.
Credit: Edi Haberl
Dem Stück ist viel Recherche-Arbeit vorausgegangen. Ihr habt euch mit Zahlen und Fakten beschäftigt und Gespräche mit Frauen geführt, die abgetrieben haben. Gab es dabei etwas, was euch besonders überrascht hat oder in Erinnerung geblieben ist?
Anja: Überrascht hat mich leider nichts. Mir wurde eher die Realität wieder sehr bewusst. Umso mehr hat sich Wut in mir ausgebreitet und eine Art Traurigkeit gemischt mit Trotz – das ist mir sehr in Erinnerung geblieben und wie ich diese Zeilen schreibe, kommt das Gefühl auch zurück. Aber genau das ist auch immer wieder ein guter Motor. Ich wünschte, wir müssten nicht zu diesen Themen arbeiten, weil sie keine Themen mehr sind. Aber das ist nicht so. Da ich eben Theater mache, kann ich mich „nur so“ wehren, äußern, einen Diskurs anstoßen, die Geschichten von Menschen erzählen, die aus meiner Sicht gehört werden sollten!
Credit: Edi Haberl
Wie ging es nach der Recherche-Phase weiter? Gab es zu Beginn der Proben ein fertiges Skript oder hat sich der Text noch mit der Inszenierung weiterentwickelt?
Anja: Nach den Interviews hat Sophia von mir die Audiodateien bekommen, um die Textentwicklung zu starten. Im Juli gab es dann eine erste und eine zweite Fassung, mit der haben Andrea Meschik (Bühne & Kostüme), Grilli Pollheimer (Musik), Kathrin Eingang (Licht) und ich dann an der Umsetzung des Abends gearbeitet, bis schließlich die Proben losgingen. Innerhalb der Proben haben sich noch ein paar Textstriche ergeben, sowie Verschiebungen einzelner Kapitel, es gab also schon Entwicklungen, alle untereinander abgesprochen – wir haben also nicht willkürlich in den Text eingegriffen. Außerdem hat sich das Quiz herauskristallisiert, das Andrea Kalloch live auf der Bühne durchführt – ich hatte das Gefühl, dass vielen Menschen die strafrechtliche Gegebenheit gar nicht bewusst ist und das deswegen noch einmal ganz klar genannt werden muss. Auch um die Informationen zu teilen, was ja lange Zeit nicht erlaubt war. Daher ähnelt unser Programmheft, das wir mit Clara Diemling (Grafik) gestaltet haben, auch mehr einer Broschüre.
Welche Herausforderungen gab es bei der Darstellung eines so sensiblen Themas?
Sophia: Für mich war es eher eine formale Herausforderung. Ich bin kein Fan von Dokumentartheater oder themenbezogenen Stückentwicklungen, sondern von Literatur für das Theater. Insofern hat mich bei der Entwicklung des Texts am ehesten interessiert: wie finde ich eine Form, die nicht dokumentarisch oder realistisch abbildet und dabei schlechtestenfalls das Berichtete kommentiert oder bewertet; sondern eine Form, die literarisch arbeitet? Mich hat dann vorrangig interessiert, wie von den Interviewten über Abtreibung gesprochen wird, welche Sätze und Worte wie kombiniert werden, über wen oder was wie geredet wird und welches Selbstbild sich zeigt? So ist diese Montageform der Wiederholung entstanden: immer wieder befragen, was habe ich gehört, was wird da gesagt und was sagen der Text und die Worte noch, auf anderen Ebenen, in anderen Arrangements, anderen Anordnungen? Wie viele Stimmen sprechen aus der einen, die uns berichtet hat, noch? Aus vielen Stunden Interviewmaterial sind tatsächlich nur sehr wenige Sätze in den Text aufgenommen worden. Diese wurden allerdings bis auf den einzelnen Buchstaben hin untersucht. Die Form, so hoffe ich, drückt den sensiblen Umgang mit dem Anvertrauten aus.
Credit: Edi Haberl
Neben bzw. rund um Sissi Noé als Darstellerin steht auch der Grazer Grrrls-Chor auf der Bühne. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit und wie gelang die Interaktion zwischen Profi-Schauspielerin und feministischem Chor?
Sophia: Im Sommer 2024 habe ich schon beim Dramatiker|innenfestival mit dem Grrrls-Chor zusammengearbeitet, für eine szenische Lesung meines Stückes „vag weilt regen“ im Kunsthaus. Auch da ging es um ein sensibles Thema: Sexualisierte Gewalt. Die Zusammenarbeit mit den Grrrls war damals hervorragend, sie sind sehr besondere, intellektuelle und professionell arbeitende Grrrls. Der Kontakt bestand also schon.
Anja: Lustigerweise hat auch eine der Chor-Gründerinnen schon einmal in einer Produktion von mir mitgewirkt, dadurch hatte ich Kontakt zu den Grrrls. Die Zusammenarbeit war wirklich eine ganz außergewöhnlich tolle Erfahrung!!
Bonusfrage;) Was steckt hinter der Schreibweise LIEAB - ein Wortspiel, eine Suchmaschinenoptimierung oder etwas ganz anderes?
Sophia: Ich habe den Stücktext als Montage entwickelt und der Text besteht ausschließlich aus Zitaten aus den Interviews mit den Menschen, die abgetrieben haben. Manche haben eher Hochdeutsch gesprochen, eine englischsprachige Person war dabei und eben einige Steirer*:nnen. „voll lieab“ ist meine Transkription eines steirisch ausgesprochenen „voll lieb“.
Anja: Ich mag daran ganz besonders, dass ich aus LIEAB sowohl „lieb“ als auch eine Art Abkürzung für „Abtreibung“ lesen kann :-)
Credit: Edi Haberl
Anja M. Wohlfahrt (geboren 1991 in Klagenfurt) arbeitet als Regisseurin und Choreografin für das Schauspielhaus Graz, Theater am Lend, Kunstlabor Graz, La Strada, Stadttheater Bruneck, Ensemble Porcia, Next Liberty Graz. Weiters war sie bis Ende 2023 organisatorische Leiterin des InTaKT-Festivals Graz und hat eine Doku über Liebe und Sexualität von Menschen mit Beeinträchtigung gedreht. Sie lebt und arbeitet überall dort, wo es sie hin verschlägt.
Sophia Barthelmes (geboren 1989 in Bayreuth) ist Autorin und Regisseurin, manchmal Wirtin, Buchhalterin, Bühnentechnikerin und Seefahrerin. Sie studierte Kultur- und Literaturwissenschaften, Geschichte und in Hamburg Schauspielregie. Von 2020-2024 ist sie Teil von Forum Text von uniT / Dramaforum Graz. 2022 inszenierte sie hier im Palais Attems Gedichte von Fatah Farzam im Rahmen des Dramatiker|innenfestivals; 2024 war sie als Autorin Residentin in der Konsole des Schauspielhaus Graz. Sie schreibt Dramatik, Essay, Prosa, Lyrik. Sophia Barthelmes lebt in Berlin.
Anja M. Wohlfahrt, Credit: Arnold Poeschl Photography (Ausschnitt)
Sophia Barthelmes, Credit: Kimi Palme