Adagio und allegro im Weltraum

Kritik: Sonne / Luft, Elfriede Jelinek, Schauspielhaus Graz

Text: Sigrun Karre - 15.10.2023

Rubrik: Theater

Mervan Ürkmez, Luzia Monteiro und Thomas Kramer (Credit_ Lex Karelly)

Die zweite Saison-Premiere am Schauspielhaus kam als Co-Produktion mit dem steirischen herbst zum dramatischen Finale des Festivals auf die Bühne. ‚Humans and Demons‘, das diesjährige Festival-Motto, lässt sich ohne große Anstrengung auch in der Inszenierung von ‚Sonne /Luft‘ wiederfinden.

Jelineks Doppelmonolog, seit der Uraufführung 2022 am Schauspielhaus Zürich als Klimawandel-Stück gehandelt, wird in der österreichischen Erstaufführung am Schauspielhaus Graz erfreulicherweise nicht auf diesen Aspekt reduziert. Ein catchy Bühnenbild (Bühnenbild und Videoanimation: Mehmet & Kazim) zeigt eine „Retro-Zukunft“, wie sie Science-Fiction-Filme vor 50 Jahren erdacht haben. Es könnte subtil illustrieren, worum auch der Text, ein innerer Monolog von Sonne und Luft, inhaltlich kreist: Die Menschen stecken ständig fest in ihrer infantilen Ameisenperspektive. Das Publikum blickt in das Innere eines Raumschiffs und durchs zentrale „Herzerlfenster“ in die Unendlichkeit des Alls.

Credit: Lex Karelly

Arche nowhere

Im Außen fliegen unentwegt Gesteinsbrocken haarscharf vorbei, im Inneren „menscheln“ die Darsteller*innen sprachlos in kleinen, mehr oder weniger belanglosen Szenen vor sich hin. Krone der Schöpfung sieht anders aus. Hier gelingt visuell ein starker Perspektivenwechsel: In die Sonnenperspektive versetzt, fühlt man sich beim Betrachten an einen Zoo erinnert, in dem die Gattung Mensch ausgestellt wird. Das Raumschiff ist eine zeitgemäße Arche Noah für die letzten Überlebenden der humanoiden Art. Obwohl eine Frau in den Wehen liegt, kommt kein Optimismus auf, orakelt die Jelinek’sche Sonne doch "Ich verbrenne die Länder und hinterlasse nichts, für keinen, Geschlecht egal, denn nach uns wird kein Geschlecht mehr kommen”. Die Natur der Erde ist nur noch als KI-Simulation auf Bildschirmen präsent, was vermuten lässt, dass sich die Prophezeiung schon erfüllt hat. Die maximale Freiheit, die die Textflächen der Inszenierung eröffnen, gibt es nicht ohne Risiko. Wie Tim Breyvogel, Thomas Kramer, Luiza Monteiro, Anna Rausch, Sebastian Schindegger, Anke Stedingk und Mervan Ürkmez unter der Regie von Emre Akal Jelineks Wortkaskaden zum Bühnendasein erwecken, ist faszinierend. Wie schon beim ganz anders gestrickten Stück „Von einem Frauenzimmer“ fällt das präzise Timing der Schauspieler*innen auf. Während das Zentralgestirn aus dem Off ego-, ergo heliozentrisch „palavert“, performen die Darsteller*innen - streckenweise in Zeitlupe - ihre Choreografie. Geräusche und Laute verschmelzen mit der Musik von Enik. Theater als genreübergreifende Komposition passt haargenau zu Jelineks musikalischer Sprache.

Luzia Monteiro (Credit: Lex Karelly)

Sonne geht auf, Luft geht aus

Das ist alles sehr subtil und führt dazu, dass man sich trotz wenig spektakulärer Variationen des Fastimmergleichen nicht langweilt, sondern in einen meditativen Loop gerät. So wie sich die Szenen auf der Drehscheibe wiederholen, dreht sich auch die Sonne verlässlich weiter: „Morgen komme ich wieder, da habe ich den Tod auch wieder im Angebot und es ist schon wieder kein Sonderangebot.“ Bevor die Luft raus ist, kommt die Luft dran. Dieser Textteil besitzt mehr Dynamik und Humor. Nach ritualhafter Langsamkeit wird nun aufs Tempo gedrückt. Die Luft hat etwas akutere Existenzsorgen als Kollegin Sonne. Nach stummer Körperperformance hat der wandelbare Theaterabend im letzten Drittel Sprechtheater auf Lager. Eine kluge Regie-Strategie im Sinne der Aufmerksamkeitssteigerung, und auch dabei zeigt sich das Können der Darsteller*innen, die nun abwechselnd und im Chor die Luft zu Wort kommen lassen.

Luiza Monteiro, Anna Rausch, Anke Stedingk (Credit: Lex Karelly)

Heute keine Sensationen

Dass Nana Mouskouris „Guten Morgen Sonnenschein“ als ironische, aber eben vordergründig auch richtig platte Klammer dieses klug durchdachten Theaterabends herhalten muss, bevor der Abend ganz ohne große Pointe oder Erregung endet, irritiert. Die Apokalypse schafft es nicht als Spektakel auf die Bühne. Gerade diese Enttäuschung der Erwartung des Unerwarteten sorgt für einen anregenden Nachklang. Das ist kein (Unter-)Haltungstheater mit eindeutiger Schlagrichtung, sondern Theater, das vieldeutige Zugänge ermöglicht und nicht mit (Selbst-)Ironie und Nuancen geizt. Solch feine und auch riskante Bühnen-Irritationen, die die individuellen und kollektiven Hirnschranken abseits des Textes sichtbar machen, sind ein Ereignis, das vom Grazer Publikum entdeckt werden darf. Weitere Termine im Schauspielhaus Graz