Thomas Bernhard wäre begeistert von uns!
Kritik: sinnlos ist Viel und Nichts, Theaterakademie LebensGroß
Text: Sigrun Karre - 12.11.2024
Schon länger hätte er nicht mehr so viele kluge Sätze gehört, meint am Ende des anschließenden Publikumsgesprächs zur Produktion „sinnlos ist Viel und Nichts“ ein Zuseher. Unrecht hat er damit nicht. Aber von vorn: Seit Frühjahr 2024 betreibt LebensGroß etwas in Österreich Einzigartiges, nämlich eine Theaterakademie für Menschen mit Behinderung, die in einem zweieinhalbjährigen Turnus Bühnendarsteller:innen ausbildet. Die Theaterakademie wird gefördert vom Innovationsfonds von Licht ins Dunkel.
Nun war im Rahmen des InTaKT Festivals die erste eigenständige Produktion der noch recht „frischen“ Schauspielschüler:innen im Salon Stolz zu sehen. Das neunköpfige Ensemble begab sich unter der behutsamen Regie von Julia Gratzer auf die Spuren der philosophischen Frage über nichts weniger als den (Un)Sinn des Lebens. Ausgangspunkt der mittels Improvisation und Schreibprotokollen gemeinsam entwickelten Performance waren Lieblingsgegenstände, die als Requisiten auf der Bühne wiederzufinden waren.
v.l.n.r: Helena Käfer, Robert Nemes (Credit: Edi Haberl)
Das ultimative Glücksrezept
Vom Publikum L-förmig umringt, balanciert das Ensemble zum Start auf einem Strick, der am Boden liegt, was zumindest die physische Fallhöhe minimiert. „Sobald man geboren wird, beginnt man eigentlich schon zu sterben“, gleich mit dem ersten Satz macht der Fußballspieler (Tobias Spiegel) sein ernüchterndes Weltbild deutlich, das im Verlauf des Abends nicht unwidersprochen bleibt. Zielgerichtet „auf Linie“ gebracht bleiben die Darstellerinnen nur kurz, denn der Fußballspieler, der (vielleicht auch?) eine Art inneren Kritiker verkörpert, wirft sie buchstäblich ins Chaos. Es folgt eine Abfolge mehr oder weniger lose zusammenhängender Szenen und ein Pingpong zwischen zynischer Resignation und hartnäckiger Lebensfreude. Es gibt ein Tennistraining mit einem ambitionierten Schiedsrichter (Florian Finsterbusch), der Disziplin und Spielregeln einfordert. In einem herrlichen Eisverkäufer-Monolog (Paul Schaden, von Ausstatterin Anäis Rabelhofer als zum Anbeißen komische, menschliche Eistüte kostümiert) wird das ultimative Glücksrezept verraten: die Eismaschine Cube750 und „Schlagobers, Milch, einen Hauch Vanille, und … was du eben gerne magst. Und Zeit. Die braucht man immer für Dinge, die einem wichtig sind.“ Während man sich gemeinsam im Nichts-Sein übt, wird die Berufskleidung gegen „existenzialistisches Schwarz“ eingetauscht, die inneren Monologe erscheinen als auf die Wand projizierte Übertitel. „Außenkorrespondent“ Janosch Ostrowski bringt wieder Bewegung ins Spiel, er erweckt die Darsteller:innen enthusiastisch mit Musik, nur der Fußballspieler verweigert – Janosch kommentiert lapidar: „Wer nicht tanzt, ist tot“. Agnes Zenz (Gesang) und Florian Haider (Gitarre und Gesang) geben im kreativen Kampf gegen die Mutlosigkeit ein feines Anti-Sinnlosigkeit-Ständchen zum Besten. Verhandelt wird im Stück auch das reale Ansinnen, durch die Ausbildung an der LebensGroß Akademie Schauspieler:innen zu werden. „Wir fordern das Publikum bestimmt in ihren Sehgewohnheiten heraus. Oder etwa nicht?“ konfrontiert Robert Nemes die Zuseher:innen mit pointierter Schärfe und ist sich sicher: „Thomas Bernhard wäre begeistert von uns“. Und Florian Haider setzt nach: „Nur, weil ich im Rollstuhl sitze, bin ich authentischer auf der Bühne, oder was?“ Agnes Zenz ist sich ihrer grenzenlosen Fantasie voll bewusst, sie initiiert ein Verkleidungsspiel, bei dem die Darsteller:innen die Bühne in einen kunterbunten (Schau-)Spielplatz verwandeln. Helena Käfer freut sich unbändig über die gruselige achtäugige Monsterspinne in Harry Potter und beginnt einen Turmbau zu Graz mit bedeutungsvollen Dingen, zu denen, neben besagter Spinne, Lena Stohriegels Captain Jack Sparrow oder Robert Nemes‘ Barbiepuppe zählt. Diese humorvoll-verspielte Szene bekommt durch Helene Käfer eine eindrucksvolle tiefgründige Wendung und Zeit, um nachzuwirken: „Wir leben zu unbewusst. Wir gehen mit Dingen um, und wissen nicht, wie wir mit Dingen umgehen …“ Am Ende gibt es noch einen männlichen Ballett-Auftritt im eleganten Abendkleid, eine Liebeserklärung an die „Traumstadt Stuttgart“ und die mutige Konfrontation mit der eigenen Angst, die einen - nicht ohne Hoffnung - vorerst noch zurückhält: „Lass uns lachen, ein andermal – vielleicht!“
Paul Schaden (Credit: Edi Haberl)
Fazit
Ein Theaterabend, der von der außergewöhnlichen Hingabe, dem Mut, den Gedanken, der intrinsischen Spielfreude und nicht zuletzt dem Fleiß der Darsteller:innen lebt und dem Publikum eine nachhaltige Perspektivenerweiterung ermöglicht. Großes Kompliment auch an Regisseurin Julia Gratzer, der es in Zusammenarbeit mit Choreografin Juliane Spannring, Musiker Felix Martl und Mike Haid (Technik) mit viel Einfühlungsvermögen und ruhiger Hand gelungen ist, Tiefgründigkeit mit Leichtigkeit zu verbinden. Eine schöne Bestätigung für die Initiator:innen der Theaterakademie LebensGroß sowie ihre Leiterin Lina Hölscher. Unbedingt mehr davon!
sinnlos ist Viel und Nichts
von Theaterakademie LebensGroß
in Zusammenarbeit mit Salon Stolz
Regie: Julia Gratzer
Projektleitung: Lina Hölscher
Dramaturgische Mitarbeit: Tilla Rath
Bühne und Kostüm: Anaïs Rabelhofer
Musik: Felix Martl
Choreografie: Juliane Spannring
Technik und Licht: Mike Haid
Video: Edi Haberl
Darsteller:innen:
Florian Finsterbusch (Schiedsrichterstuhl)
Florian Haider (Gitarre)
Helena Käfer (Spinne Aragog)
Robert Nemes (Barbiepuppe)
Janosch Ostrowski (Musikbox)
Paul Schaden (Eis)
Tobias Spiegl (Fußballspiel Mailand)
Lena Strohriegel (Captain Jack Sparrow)
Agnes Zenz (leeres Buch)
v.l.n.r: Florian Finsterbusch, Agnes Zenz, Paul Schaden, Lena Strohriegel, Florian Haider, Robert Nemes, Helena Käfer, Felix Martl (Credit: Edi Haberl)
Robert Nemes (Credit: Edi Haberl)
v.l.n.r: Agnes Zenz, Helena Käfer (Credit: Edi Haberl)