Im Glashaus des Patriarchats

Kritik: Rutherford & Sohn, Schauspielhaus Graz

Text: Sigrun Karre - 13.01.2025

Rubrik: Theater

Ensemble (c)Lex Karelly

Kanonerweiterung mit intensivem Familiendrama am Schauspielhaus Graz

Das Schauspielhaus Graz startet das Jahr mit einem kraftvollen Beitrag zur Kanonerweiterung: "Rutherford and Son", ein Werk der britischen Autorin Githa Sowerby, das bei seiner Uraufführung 1912 überraschend erfolgreich war. Doch das Drama geriet in Vergessenheit, bis es 1994 in England wieder aufgeführt wurde. Mit der österreichischen Erstaufführung dieses Stücks gelingt dem Schauspielhaus Graz ein Coup. Die Grazer Dramatikerin Gerhild Steinbuch hat das Stück in ein unangestrengt zeitgemäßes Skript übersetzt, das mit seinen fast filmischen Dialogen besticht. Regisseur Jakab Tarnóczi inszeniert die Geschichte mit psychologischer Präzision. Die Themen – familiäre Abhängigkeiten, patriarchale Strukturen und der Kampf gegen alte Zwänge – haben nichts von ihrer Relevanz verloren.

Tim Breyvogel, Annette Holzmann, Franz Solar (c)Lex Karelly

Kühle Sterne, kalte Blicke

Das Bühnenbild von Eszter Kálmán zieht den Blick sofort auf sich: Ein transparentes Container-Glashaus mit nordisch-unterkühlem Design-Interieur. Es gewährt Einblicke in jeden Raum und bleibt dennoch unnahbar. Die offenen Flächen kontrastieren scharf mit der emotionalen Distanz zwischen den Figuren. Die Drehbühne lässt die Szene unaufhaltsam rotieren, verstärkt durch einen nebulösen Sternenhimmel, der niemals stillsteht. Diese Bewegung unterstreicht die Ausweglosigkeit der Charaktere, gefangen in immer gleichen Konflikten. Hier gibt es kein Entkommen. Selbst die Kostüme von Ilkas Giliga – Strickpullis, Funktionsunterwäsche – sind pragmatisch und symbolisieren das familiäre Klima: kalt, zweckdienlich, unpersönlich. „Warm anziehen“ heißt es für die Figuren, nicht nur wörtlich, sondern auch emotional.

Franz Solar, Thomas Kramer (c)Lex Karelly

Väterlicher Kontrollzwang

Franz Solar dominiert als John Rutherford Sr., der tyrannische Patriarch, der sein Leben und das seiner Familie gnadenlos dem Erhalt der Glasfabrik unterordnet. Mit eiskalter Berechnung, unterbrochen von plötzlichen Wutausbrüchen, die seine eigene Unsicherheit entblößen, spielt Solar diese Rolle meisterhaft. Man spürt den Druck, der von ihm ausgeht, in jeder Geste und jedem Blick. Mario Lopatta zeigt als Sohn John Jr. eine explosive Mischung aus Verletzlichkeit und impulsiver Sprunghaftigkeit. Sein ständiges Scheitern an den Erwartungen seines Vaters ist schmerzhaft mitanzusehen. Noch eindringlicher wird dies durch Tim Breyvogel als Priester Richard, der in seiner tiefen Traurigkeit und Resignation darstellt, wie ein Sohn zerbricht, der nie die Liebe seines Vaters gewinnen konnte. Glaubhaft ist Thomas Kramer in seiner Rolle als loyaler Verwalter Martin. Er verkörpert den Pragmatismus eines Arbeiters, für den große Träume unbezahlbarer Luxus sind. Sein Streben nach Sicherheit und Ruhe steht im Kontrast zu den romantischen Sehnsüchten, die er sich nie leisten konnte.

Mario Lopatta und Olivia Grigolli, (c)Lex Karelly

Frauen zwischen Anpassung und Aufbruch

Die weiblichen Figuren spiegeln die verschiedenen Strategien wider, wie Frauen in patriarchalen Strukturen überleben oder scheitern. Olivia Grigolli zeigt Tante Ann als tragische Figur, die sich durch Selbstverleugnung nahezu ausgelöscht hat. Sie dient pflichtbewusst und ohne Widerrede, ihr ganzes Sein ist dem System untergeordnet. Anke Stedingk sorgt als Mrs. Henderson für eine der wenigen explosiven Momente. Als Mutter eines gefeuerten Fabrikarbeiters rebelliert sie in einer Art Solo-Protest, ausgestattet mit „Gelbweste“ und Spraydose. Ihre Wut über die Tyrannei eines Patriarchen, der seine eigene Herkunft aus der Arbeiterklasse verdrängt hat, ist fast physisch spürbar. Ihre Szene bringt frischen Wind in die drückende Atmosphäre. Marielle Layher als Tochter Janet bringt eine ganz eigene Dynamik in die Handlung. Sie ist frustriert über ihre eigene Unsichtbarkeit im Schatten ihres Vaters. Ihr Stolz und ihre unterschwellige Rebellion gegen die patriarchalen Strukturen verleihen ihr Vielschichtigkeit. Ihre heimliche Liebschaft mit Martin zeigt, dass sie sich nach mehr sehnt als nur Anpassung – ein Leben, das sie selbst wählt. Annette Holzmann spielt Mary, die Schwiegertochter, mit subtiler Finesse. Sie bewegt sich klug zwischen Anpassung und Widerstand, ihre Zurückhaltung ist Taktik. Sie hat die Familie durchschaut und liefert im entscheidenden Moment einen finalen Twist, der in einem unerwarteten Machtspiel gipfelt.

Marielle Layher, (c)Lex Karelly

Ein Drama von zeitloser Relevanz

Dass der über 100 Jahre alte Stoff nicht bis ins Detail ins Jetzt transportierbar ist, ist nebensächlich, hält er doch genügend universellen Themen bereit: Liebe, Verrat, Macht und Freiheitsdrang finden hier ihre nach wie vor zeitgenössischen Spielfelder im patriarchalen Familiensystem, Hyper-Materialismus, Klassendenken und Generationenkonflikt. Regisseur Jakab Tarnóczi schafft es, Sowerbys Stoff mit subtilen Mitteln ins Heute zu holen, ohne ihn künstlich zu modernisieren. Im "Plauderton" spielt sich das Ensemble in Höchstform und erreicht im Laufe des Abends eine beachtliche Bandbreite von Emotionen. Gerhild Steinbuchs klare, zeitgemäße Dialoge, die psychologische Intensität der Inszenierung und die atmosphärische Musik von Levente Bencsik und Máté Hunyadi machen den Abend zu einem intensiven Theatererlebnis. Rutherford & Sohn zeigt auf eindrückliche Weise, wie tief patriarchale Strukturen Menschen prägen und wie schwer es ist, sich daraus zu befreien. Tarnóczis Inszenierung überzeugt durch eine hervorragende Besetzung, kluge Regie und ein eindrucksvolles Bühnenbild. Ein Abend, der nicht nur nachhallt, sondern auch zum Nachdenken über eigene familiäre Muster anregt.