Selbstbefragung als Gesamtkunstwerk mit mächtig erhellendem Hoffnungsschimmer

Kritik: Qui som?, Baro d’evel

Text: Sigrun Karre - 04.08.2024

Rubrik: Theater
Kritik: Qui som?, Baro d’evel

Credit: Nikola Milatovic

Beim Festival 'La Strada' stand an den letzten drei Tagen eine österreichische Uraufführung in der Oper Graz am Programm. Der franko-katalanische Zirkus 'Baro d’evel' war beim 'Internationalen Festival für Straßenkunst, Figurentheater, Neuen Zirkus und Community Art' schön öfters zu Gast, diesmal hatte er das eigenwillige (Kunst-)Stück 'Qui som?' im Gepäck.

Der diesjährige „Untertitel“ des La Strada Festivals „Wer werden wir in Zukunft sein und wie werden wir leben?“ bescherte Graz und weiteren Orten in der Steiermark in den letzten Tagen einen dichten Reigen an Interventionen und Produktionen, bei denen nicht zuletzt ein neues Level an Tiefgründigkeit erreicht wurde. Das Festival hat sich ein künstlerisches Niveau erarbeitet, das schon staunen machen kann. Das finale 'Qui som?' der katalanisch-französischen Kompagnie 'Baro d’evel' hat Graz wohl mit einem Höhepunkt des diesjährigen Kulturjahres beschenkt . Was in der Oper Graz 100 Minuten lang zu erleben war, lässt sich in kein und auch nicht in zwei oder drei Genres einordnen. ‘Qui som?’, inszeniert von Camille Decourtye und Blaȉ Mateu Trias, ist ein überraschend drastisches und herausforderndes Gesamtkunstwerk, das nicht nur für Wohlgefühle sorgt.
Kritik: Qui som?, Baro d’evel

Credit: Nikola Milatovic

Transformation und Neuerfindung in Schlammfarben

Zuerst wird auf der Bühne einmal slapstickreich eine Töpferscheibe in Gang gesetzt zwecks Reproduktion von zerschlagenem Geschirr. Die Nachbildung misslingt. Prometheus 2.0 lässt grüßen? An anderer Stelle scheint das offensichtlich, etwa, wenn die Performer:innen mit Tontöpfen auf den Köpfen „sinn-los“ herumtaumeln, sich erst Ohren und Augen formen müssen.  Eine virtuos-überdrehte „Ausrutsch-Performance“ beschert dem Kollektiv eine Art Tarnkleidung vor dem zentral im Hintergrund positionierten Schlammberg, der gar nicht so unverrückbar ist, wie er scheint und sich dann und wann unheilvoll zu regen beginnt. Schlammfarbe bleibt das Farbkonzept des Abends, das dank viel Bewegung und Lichttechnik facettenreich schillert.  Wie mit Leuchtmarker hervorgehoben wirken jene wenigen Details in Signalfarbe, die das Ton in Ton-Konzept durchbrechen. Zufälle gibt es natürlich keine, dafür vielschichtige Symbolik. Die sich surreal verwandelnden und verrenkenden Wesen formieren sich zur Performance im rhythmusgebenden Gleichschritt; die Trance ist da nicht mehr weit, was in kurzen Momenten beklemmende Assoziationen weckt. Krieg, Autoritarismus, Gruppendynamiken - es geht ans Eingemachte, also auch um die bekannten menschlichen Irrungen und Wirrungen, um Transformation und Neuerfindung, die mitunter auch Gespenster gebiert.
Kritik: Qui som?, Baro d’evel

Credit: Nikola Milatovic

Fruchtbare Tabula Rasa

Der Abend lebt von extra starken Bildern, etwa einem Bühnenbild, das für sich schon als Kunstwerk stehen könnte und vom Berg zum Tsunami mutiert, der Menschen schluckt und eine Landschaft aus Plastikmüll ausspuckt.  Fesselnd sind die gekonnten Tanzszenen, von denen man gerne ein paar mehr gesehen hätte, herzerwärmend die Gesangssoli. Der Text gerät an einzelnen Stellen recht explizit und langatmig, erzeugt aber auch Poesie: „Die Schönheit geht kaputt, weil man sie nicht betrachtet und wenn man nichts mehr sieht, denkt man dauernd an sie“. Einen zumindest dezenten Hang zur Romantik sollte man schon mitbringen, um sich von diesem eigenwilligen Zirkusmärchen in den Bann ziehen zu lassen. Im letzten Drittel nimmt der Abend nach ein paar Längen kräftig Fahrt auf. Das Finale erzeugt einen dynamischen Bilderfluss von verstörender Kraft und das widersprüchliche Gefühl eines mächtig erhellenden Hoffnungsschimmers, dass im menschlichen Kollektiv nicht nur die Energie für Zerstörung, sondern auch für fruchtbare Tabula Rasa schlummert.  Nach langem Applaus unterstreicht das Ensemble das optimistische Bühnenfazit beschwingt mit einer Fanfare, mit der es das Publikum aus dem Haus auf die Straße begleitet. Aber auch dieser Nachtrag bleibt ambivalent. Musik kann ein Kollektiv in Bewegung setzen, bleibt die Frage auf welchen Weg sie führt.
Kritik: Qui som?, Baro d’evel

Credit: Nikola Milatovic