Dynamisches Schlafwandeln zum Saisonstart
Kritik: Mein Jahr der Ruhe und Entspannung, Schauspielhaus Graz
Text: - 25.09.2024
Rubrik: Theater
Mit einer relativ freien Dramatisierung von Ottessa Moshfeghs Erfolgsroman "Mein Jahr der Ruhe und Entspannung" läutet das Schauspielhaus Graz die Spielsaison ein. Bei der Premiere überzeugten starke Bilder und ein fantastisches Ensemble.
Wer sich aufgrund von Titel und Romanvorlage einen eher reduzierten, mediativen Theaterabend erwartet hat, wurde am 20. September, bei der ersten Saison-Premiere überrascht: Die Schauspielhaus-Inszenierung nach dem gleichnamigen Roman von Ottessa Moshfegh aus 2019 ist eines sicher nicht: ruhig oder beschaulich. Die handlungsarme Ich-Erzählung wird für die Bühne in verschiedene Rollen aufgedröselt (Textfassung: Malgorzata Czerwien) und bekommt eine gänzlich andere Richtung. Hier wird in einem schrillen Szenenreigen ein kollektives Lebensgefühl aus Trauma, Weltschmerz und Überforderung am postmodernen Zeitalter des Kapitalismus zelebriert. Das hat zwar nicht mehr so viel mit der Romanvorlage zu tun, trifft aber den Nerv einer angsterstarrten Zeit.
Luiza Monteiro, Anna Klimovitskaya (c) Lex Karelly
Den Anfang macht gleich einmal eine tierische Szene mit einem fantastisch performenden Dominik Puhl als Hund, wenig später findet sich die namenlose Hauptfigur (wunderbar subtil: Luiza Monteiro) inmitten einer therapeutischen Aufstellung mit einer Handvoll Bezugspersonen wieder: Mario Lopatta gibt den Künstler, der sein Umfeld auf der Suche nach dem künstlerischen Moment gnadenlos ausschlachtet, aber zumindest zwischendurch von Sinnfragen gequält wird.
Gemeinsam mit Marielle Layher als überkandidelte Galeristin agiert er als Vertreter einer pervertierten Kunstwelt. Die einfach gestrickte beste Freundin Reva (Anna Klimovitskaya) leidet an einer Essstörung, die fallweise die Freundschaft zur Protagonistin beeinträchtigt. Ein Anwalt (Thomas Kramer) ist nur zur Stelle, weil er den Verkauf des Hauses der verstorbenen Eltern abwickeln will, aber eigentlich viel lieber in die Berge geht. Die alkoholkranke Mutter (Olivia Grigolli), verfolgt selbst im Sterbebett „mit Schlauch im Hals“ noch ihr einziges Lebensziel: schön zu sein.
Dreamteam auf der Bühne: Luiza Monteiro, Olivia Grigolli (c) Lex Karelly
Selbst die Therapeutin (Anke Stedingk) ist regelmäßig überfordert. Die „Nebenfiguren“ sind allesamt grell überzeichnete Traumatisierte einer im wahrsten Sinne ver-rückten Welt, in der sich jeder mit hoher Betriebsamkeit selbst als Produkt auf den „Markt“ wirft. Eindrücklich wird die fast unbeholfene Gefühlskälte der Figuren sichtbar, etwa wenn der verstorbene Vater (Mario Lopatta) auf die Frage, ob er seine Tochter liebt, ausweichend antwortet: „Liebe ist ja ein Konzept“.
Im Kontrast dazu ist die Rolle der eigentlichen Protagonistin fast neutral angelegt. Darin liegt der eigentliche Clou der Inszenierung (Regie: Ewelina Marciniak ), in der sich Erinnerungen mit Traumsequenzen mischen, etwa wenn eine Beförderung ins World Trade Center im (T)Raum (er)steht. Den inhaltlichen roten Faden, so es ihn gibt, verliert man als Zuseher:in, was aber der Spannung und Erschütterung keinen Abbruch tut.
Dominik Puhl, Luiza Monteiro, Mario Lopatta (c) Lex Karelly
Stattdessen gibt es viel Atmosphäre, erzeugt auch durch eine stimmige Choreografie (Mikołaj Karczewski), Gesangssoli (beeindruckend auch als Sängerin: Luiza Monteiros) und eine Inszenierung wie aus einem Guss. Zwischendurch werden ein paar wissenschaftliche Ausführungen eingeworfen, etwa über die Produktion von Oxytocin. Ein Weltbild, in dem jedes Gefühl Chemie ist, trägt auch nicht zur Hochstimmung bei, wohl aber zum Medikamentenmissbrauch, der für einen Gutteil der psychedelischen Wendungen verantwortlich zu sein scheint.
Das gibt Raum für Fantasie, z. B. in Form einer Schattentheater-Szene oder kopfüber hängenden Palmen (TRAUMhafte Ausstattung: Natalia Mleczak), die eine Jenseitsperspektive andeuten könnten, oder einfach nur der Traumlogik geschuldet sind. Ein wenig erinnert das Stück thematisch und ästhetisch an eine Wiener Moderne 2.0 und Frühexpressionistisches. Ob bewusst oder unbewusst so inszeniert, die Parallelen sind auffindbar. Punktgenaues Theater am Puls aktueller kollektiver Befindlichkeiten und ein Ensemble in Hochform. Wer atmosphärisches, assoziatives Theater mag, wird hier bestens bedient.
Text: Sigrun Karre
Schauspielhaus Graz, Hofgasse 11, 8010 Graz