Gesellschaftsfrust mit viel Spiellust

Kritik: Leonce und Lena – nowhere to run im Schauspielhaus Graz

Text: Sigrun Karre - 05.11.2023

Rubrik: Theater

Dominik Puhl, Annette Holzmann, Mario Lopatta (Credit: Lex Karelly)

Als dritte Saison-Premiere auf der großen Bühne im Schauspielhaus Graz war Büchners gesellschaftskritisches Lustspiel „Leonce und Lena“ dran. Die 30-jährige Regisseurin Rebecca David hat sich vorgenommen, die Vormärz-Satire mit Ansage in die Gegenwart zu holen.

Fast beiläufig wird das Publikum beim Betreten des Theaterraums im Schauspielhaus zum Zeugen eines gedoppelten Kammerspiels, bei dem sich zwei Sprosse aus dem Geldadel – links Lena aus dem Hause Pipi (Otiti Engelhardt), rechts Leonce aus dem Hause Popo (Dominik Puhl) – in zwei fast exakt gespiegelten Kammern gehörig langweilen.  Die herrlich schräge Ausstattung (Bühne: Robin Metzer, Kostüm: Anna Maria Schories) taucht den Pinsel kräftig in die Farbpalette von Zuckerwatterosa bis Theaterblutrot, die zwei Königskinder 2.0, Gouvernante (Anette Holzmann), Diener Valerio (Mario Lopatta) und der schrullig umherirrende Patriarch (Rudi Widerhofer) sind detailreich in Rüschen und Tüll gepackt. Georg Büchners Ironie und Wortwitz erweist sich über weite Strecken als erstaunlich zeitgemäß und fusionsfähig mit dem „Neutext“. Die Darsteller*innen meistern den schmalen Grat zwischen lustvoll-ironischer Übertreibung und Karikatur mit Leichtigkeit, sie blödeln sich in Höchstform, dass es eine Freude ist. Das Publikum fühlt sich hörbar gut unterhalten vom wort- und slapstickreichen Vertrödeln der Zeit, als dann der Popo-Vater mit dem Plan auftaucht, mittels Heiratspolitik die zwei Wirtschaftsimperien der Popos und Pipis zu fusionieren. Getreu der Originalhandlung büxen die zwei Unwilligen jeweils mit Gouvernante bzw. Diener im Schlepptau aus nach Italien, ins gelobte Land des ‚Dolce far niente‘. Dabei erweitert sich der Bühnenraum gehörig nach hinten und das Spiel verlagert sich erstmal in die Totale. Die dekadente Nabelschau wird zunehmend von kapitalismuskritischen Tönen unterbrochen. An das Leistungsmantra „Erfolg durch Arbeit“ will nur noch der Patriarch glauben, der immer mal wieder kurz vorbeischaut, auf seiner entrückten Suche nach dem Erben und einer Zeit, die nicht (mehr) existiert.

Otiti Engelhardt, Dominik Puhl (Credit: Lex Karelly)

Generation Z im Nowhereland

Die Gesellschaftspyramide wackelt, wenn die potenziellen Erben die Schwere der Verantwortung „an der Spitze zu stehen“ verweigern und ihre zwei Weggefährten im Angestelltenverhältnis längst wissen, dass vom vielen Schuften auch nichts (mehr) zu erwarten ist, außer Raubbau am Menschen und der Natur. Während Valerio neowienerisch, mit „Amore“-Reisebags beladen, ganz im Stil der viel gescholtenen Generation Z nur noch der Kunst des Müßiggangs frönen will, entpuppt sich die sowohl bei Pipis als auch bei Popos in Teilzeit beschäftigte Gouvernante, als kämpferisch, jedoch vom Hamsterrad des gesellschaftlichen Aufstiegskampfes ermüdet. Da hilft auch kein Yoga. Nur eine Revolution. Der Moment, diese auf der Bühne zu zünden, scheint gekommen, kommt aber nicht. Das ist schade, denn der Büchner-Adaption stünde klare Kante ziemlich gut. Die Sprache der jungen Regisseurin Rebekka David – und das ist natürlich eine Wahl – ist keine aktivistische, obwohl dort und da Schärfe aufblitzt: Wieso trotz technischer Entwicklung die Arbeit nicht weniger wird, darauf weiß auch die Gouvernante keine Antwort. Überhaupt scheint Idealismus gegenwärtig Mangelware zu sein, denn "Gott ist tot, Marx auch und die Liebe ist flatterhaft." Spätestens auf den letzten Metern zerbröselt die Geschichte inmitten von diversen Effekten und viel Körpereinsatz. Der Versuch, sich zum Finale noch einmal am Originaltext zu orientieren um dann ins "Real Life" zu schwenken, wirkt ungewollt konfus. So klingt der Theaterabend unterhaltsam, aber harmlos aus. Wohlverdienter langer Applaus, nicht zuletzt für die beachtliche Leistung aller Darsteller*innen.

Otiti Engelhardt, Mario Lopatta (Credit: Lex Karelly)