Kafka jenseits des Pop-Idols
Kritik: Kafka | Heimkehr, Schauspielhaus Graz
Text: Lydia Bißmann - 22.09.2024
Rubrik: Theater
Die Inszenierung Kafka Heimkehr bündelt Textfragmente aus unterschiedlichen Werken Franz Kafkas zu einer Bühnenfassung. Diese Fassung stammt von der Schauspielhaus-Intendantin Andrea Vilter selbst, die gemeinsam mit Jan Philipp Gloger auch die Regie führte. Gemeinsam haben die Texte das Thema Familie und die Schwierigkeiten des Zusammenlebens in dieser kleinsten Zelle der Gesellschaft.
Drei Söhne unterschiedlichen Alters (Tim Breyvogel, Željko Marović und Anna Rausch) arbeiten sich hier an ihrem Antagonisten, dem Vater (Franz Solar), ab. Familie ist kompliziert, vor allem, wenn man in einem Durchgangszimmer schlafen muss, für seine Vorlieben wie das Schreiben nur wenig Zeit und Ruhe findet und generell über ein empfindsames Gemüt verfügt. Franziska Bornkamm hat dafür ein Bühnenbild geschaffen, das wie ein Wimmelbild für Möbelfans wirkt: Ein riesiger Haufen teils beschädigter Stühle, in dem die Darsteller:innen herumkrabbeln, nimmt einen großen Teil der Bühne im Schauraum ein. Der Rest vermittelt leicht patinierte Häuslichkeit mit Büchern, Manuskripten, mechanischen Schreibmaschinen, Bett und Küche. Der Anflug von Gemütlichkeit entsteht aber auch dadurch, dass die Besucher:innen durch Keller, Stiegen, Lagerräume und Hinterzimmer auf die Bühne gelotst werden. Man ist froh, dass man nach dieser Mini-Expedition sitzen darf. Bequemlichkeit gibt es allerdings nur für Beine und Gesäß – Berieselungstheater ist Kafkas Heimkehr keines.
Željko Marović, Tim Breyvogel. (Credit: Schauspielhaus Graz, Lex Karelly)
Zornige Söhne mit Entscheidungsschwierigkeiten
Anna Rausch gibt den jüngsten Sohn mit energetischem Trotz und Aufbegehren. Ähnliche Emotionen liefert Tim Breyvogel als ältester Sohn, gespickt mit etwas mehr Abgeklärtheit und Frust. Beide spielen exzellent und eloquent, laden schlichte Handlungen wie das Anziehen von Socken oder Hosen mit viel Bedeutung auf. Aufgelockert wird ihr Spiel durch gut getaktete Improvisationseinlagen. Kafkas Texte sind nicht für die Bühne gedacht und verlangen von den Darsteller:innen und Besucher:innen viel, da fast jedes Wort wichtig ist. Etwas herzlicher, verbindlicher und weicher gibt sich Željko Marović als mittlerer Sohn, dem man jede Sekunde abnimmt, dass er vom Vater einfach nur verstanden und geliebt werden möchte. Franz Solar mimt den zielstrebigen Patriarchen – sein Vortrag über seine neun unterschiedlichen Söhne samt Vor- und Nachteilen ist abstoßend und anziehend zugleich. (Klassifizierungen faszinieren immer, vor allem, wenn man lebende Bilder der Söhne-Darsteller:innen zu den einzelnen Charakteren gleich mitgeliefert bekommt.) Trotzdem geht er sparsam mit der Dämonik und dem Zynismus um; er ist ein Arschloch, aber auch ein überlegter Versorger. Über weite Strecken im Spiel hört er der Anklage seiner Söhne einfach nur zu und verzieht manchmal das Gesicht nur leicht. Seine Argumente in der prozesshaft inszenierten Diskussion sind auch durchaus schlüssig, schließlich hat der Sohn ja massive Entscheidungsprobleme, die jedem auf die Nerven gehen würden. Das gibt Raum für Spekulationen und Interpretationen – schließlich weiß niemand von uns tatsächlich, was sich Kafkas Vater über seinen nerdigen Sohn gedacht hat, da er es ja nicht aufgeschrieben hat.
Anna Rausch, Tim Breyvogel, Franz Solar und Željko Marović. (Credit: Schauspielhaus Graz, Lex Karelly)
Brain-Fitness als Erlösung
Kafka | Heimkehr im Schauspielhaus Graz ist eine sehr anspruchsvolle, intellektuelle Fitnessübung fürs Gehirn, die eine angenehme Abwechslung zum sonstigen Hype in Kafkas 100. Todesjahr 2024 bietet. Sie erlöst den Schriftsteller von der Rolle des Pop-Idols der Literatur, der Nüsse kauend mit einer Botox-Fratze durch Serien mit Ausstattungs-Fetisch turnt, und rückt ihn wieder an den Platz, der ihm gebührt.