Ein Familiengeheimnis in zwei Teilen im Quartier.
Kritik: Herbstfest auf dem Lande, Theater im Bahnhof
Text: Sigrun Karre - 11.11.2023
Rubrik: Theater
Die vierte TiB-Premiere unter dem Saison-Motto ´Unbehagen´ stand am 9. November auf dem Programm. Eine äußerst gelungene Auseinandersetzung mit der kleinsten Zelle der Gesellschaft.
Mangelnde Experimentierfreude konnte man den TiB noch nie attestieren, in letzter Zeit waren die Ergebnisse des wagemutigen theatralen Forschens mitunter durchwachsen. Die November-Produktion über familiäre Verstrickungen (Regie: Monika Klengel, Franz Polstra) legt eine spektakuläre Punktlandung hin. Die smarte Handschrift des TiB ist wieder deutlich erkennbar. Mit seinem Augenmerk auf Timing, Dynamik und Rhythmus ist der zweiteilige Theaterabend wie eine präzise Komposition angelegt. In einer Mischung aus Klarheit und Understatement – das hat fast britischen Appeal – gemixt mit biedermeierlichen Landschaftsbeschreibungen, hinter deren Idylle spürbar Unbehagliches lauert, wird im ersten Teil als Live-Hörspielproduktion eine Familienkonstellation seziert. Das Bühnenbild (Ausstattung: Helene Thümmel) besteht aus viel staub- und mottenverdächtigem Stoff in fahlen Farben anno dazumal: Der Boden ist mit schweren Teppichen bedeckt, alte Kleidung hängt „in Gruppen“ von der Decke.
Die Darsteller*innen Juliette Eröd, Gabriela Hiti, Lorenz Kabas und Martina Zinner zeigen als (Ein-)Sprecher*innen eines Whatsapp-Dialogs zwecks Organisation einer Geburtstagsfeier für den verwitweten Vater, ihre sprechtechnischen Qualitäten. Währenddessen steuern Jacob Banigan und Frans Polestra federführend die Geräuschkulisse bei, wobei zweiterer raffinierte Klangexperimente u. a. mit Wasserkrug und Hammer auf E-Gitarren-Saite ausführt.
Credit: Johannes Gellner
Der ganz "normale" Familienwahnsinn
Der Vater wird demnächst 80, die Mutter lebt nicht mehr. Ganz überwunden haben die vier Kinder ihren Tod noch nicht. Ob die Darsteller*innen deswegen Schwarz tragen, bleibt eine Vermutung.
„Ich glaube, sie wäre ohne uns glücklicher gewesen“, sinniert eine der Töchter, keine*r widerspricht . Die Schwester setzt nach „Sie war mehr eine Mutter-Darstellerin, als eine Mutter“. Und der Vater war aus Sicht der Geschwister mehr den Rosen, als den Kindern zugetan. Seine Qualität sei seine Abwesenheit gewesen, sind sich die erwachsenen Kinder einig. Und so bleibt der Vater konsequenterweise auch auf der Bühne abwesend und kommt nicht zu Wort, während bei der Familienfeier im Rosenhaus unter den Teppich Gekehrtes zum Vorschein kommt und beim „Stammhalter“ ein familiäres Stockholm-Syndrom nach sich zieht.
Ziemlich harter Tobak ist das und doch kein ganz großes Drama, zumindest keines, das nicht so oder so ähnlich in der Mehrheit der Familiengeschichten zu finden ist. Dieser Umstand und die unaufgeregte Herangehensweise an die Thematik ermöglichen auch zahlreiche komische Momente. Und Humor ist bekanntlich keine schlechte Strategie, um sich konstruktiv vom Drama zu distanzieren.
Credit: Johannes Gellner
Kollektive Narbenschau
Nach 60 Minuten, kurzer Pause und Raumwechsel, startet Teil zwei des Familiengeheimnisses. Da spielt die Regie zum Einstieg charmant-hinterhältig mit der geistigen Kondition des Publikums, denn nun wird die Hörspielproduktion von Teil eins in voller Länge samt „Sitcom-Lacher“ des Publikums abgespielt.
Nach dem Live-Sprechakt ist jetzt der Körper im Fokus. Die Darsteller*innen performen eine Choreografie, die irgendwo zwischen expressionistischer Performance, Pantomime und Familienaufstellung diversen Gefühlen nachspürt, die der „Organismus“ Familie im Einzelnen hervorruft. Intimität birgt immer auch das Risiko von Grenzüberschreitung und Verletzung. Man entkommt dem unsichtbaren Band, den Verflechtungen, der Geschichte, deren dunkle Kapitel über Generationen in den Familien weiter spuken, nicht. Bis man sich ihnen stellt. Ein humorvoll-tiefgründiger Theaterabend mit „Heilungspotential“ und erstklassigem Spiel!
Credit: Johannes Gellner