Berührend intensive Szenen aus der Zwischenwelt der Geschlechter
Kritik: Ein Körper : Mein Fließen, Theater Quadrat
Text: Robert Goessl - 22.09.2024
Rubrik: Theater
Geschlechteridentität und Geschlechtszuschreibungen aus zwei unterschiedlichen Jahrhunderten bringt das Theater Quadrat zur Aufführung. Dabei erlebt man zwei voneinander unabhängige Stücke, die nacheinander gespielt werden und einen Eindruck davon schaffen, wie schwierig der Umgang in der Gesellschaft mit nicht eindeutigen Geschlechterrollen ist.
Die Basis dafür sind Kim de l’Horizons "Blutbuch" und George Sands "Gabriel“. In beiden geht es darum, die Wahrnehmung und Kategorisierung von Geschlecht aufzuweichen, den Standpunkt, dass ein Mensch entweder Mann oder der Mensch Frau ist – mitsamt dem dazugehörigen Rollenverständnis – zu hinterfragen. Das scheinbar überraschende ist, dass der Unterschied in der Wahrnehmung zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert in Bezug auf die Gesellschaft ziemlich ernüchternd ausfällt.
Credit Yvonne Beck
„Blutbuch“: Der Körper des Menschen im Grenzbereich
Kim de l’Horizons liefert in seinem „Blutbuch“ eine Tour de Force auf der Suche nach seinem Körpergefühl. Er ist ein Getriebener in seinem Körper, der weder Mann noch Frau sein will. Entsprechend wird auch die Sprache neu befragt, und konsequent statt „man“ „mensch“ verwendet.
Mensch versucht seinen Körper in der Welt zu Extremen zu zwingen, sich sexuell ausbeuten zu lassen, um seinen Körper und damit auch sich zu spüren, als wolle er damit seine Grenzen, den Anfang und das Ende dieses Körpers finden.
Mensch will nicht Mann werden, weil er nicht gewalttätig sein und auf Frauen herabblicken will und so versucht mensch für sich eine neue Geschichte zu erfinden. Basierend auf der Geschichte seiner Familie kommt so eine Geschichte der Frauen zustande, die Geschichte seiner Großmeer und seiner Meer – also seiner Großmutter und seiner Mutter – und den Generationen davor, wird ein Stammbaum gegeben, der nicht auf der männlichen Line beruht und deren Entbehrungen als Frauen mit einbezieht.
Credit Yvonne Beck
Ein Leben – ein Mensch – ein Kampf – eine neue Geschichte
Sich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen, relativiert viele seiner Erinnerungen aus seiner Kindheit, denn seine Meer wurde als Frau, wie schon die weiblichen Generationen davor, nicht dabei unterstützt, zu höherer Bildung zu gelangen und musste sich das mühsam selbst finanzieren. Und so stand sie dann vor der Wahl, das Kind abzutreiben, also vielmehr „Mensch“ abzutreiben, und einen mühsam begonnenen Weg trotz aller rollenbezogenen Widerstände, aus ihrem Leben etwas Eigenes zu machen, fortzusetzen, oder sich wie die Generationen davor sich der vergebenen Rolle Frau anzupassen. Dass sie sich dann für das Kind, also den Menschen entschieden hat, lässt so manche eisige Erfahrung aus der Kindheit in anderem Licht erscheinen.
Ninja Reichert, die auch den hervorragenden Text in eine dramatische Form verdichtet hat, verleiht diesem Körper und diesem Geist eine unerhörte Kraft. Mit gewaltigem Einsatz und wahnsinniger Energie macht sie einen Kampf spürbar, dessen Emotionen auf das Publikum überspringen und auch dieses emotional herausfordern. In einer selten intensiven und herausfordernden Darstellung lotet sie Grenzen aus, und lässt die Zuschauer daran teilhaben, ihre eigenen Grenzen zu finden.
Credit Yvonne Beck
„Gabriel“: Die Ungnade der Geburt mit dem falschen Geschlecht
Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil, die als Pseudonym George Sand wählte, also einen Namen, aus dem ihr Geschlecht nicht erkennbar war – sie ließ sich auch gerne als Mann ansprechen – ist eine Besonderheit in der literarischen Welt im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Sie konnte sich als Frau in einer männerdominierten Welt durchsetzen, schrieb über 70 Romane und war eine der erfolgreichsten Schriftsteller*innen ihrer Zeit. Zudem setzte sie sich auch zeitlebens für Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit ein.
In „Gabriel“, 1839 als Dialog-Fortsetzungsroman geschrieben und seltsamerweise erst 2022 erstmals auf Deutsch in Buchform erschienen, schuf sie einen Helden, der in Wahrheit eine Heldin ist. Damit kreierte sie eine Figur, in die sie ihre Lebenserfahrungen einbrachte in einer Welt, in der Mensch sich eine männliche Identität zulegen musste, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können.
Credit Yvonne Beck
Ein Leben zwischen den Welten
Gina Mattiello, Werner Halbedl und Alexander Kropsch bringen dieses Werk als traditionelles Kammerspiel auf die Bühne. Als Erbrechtsgründen wird eine Tochter in einem goldenen Käfig gehalten und mit bester Erziehung und Ausbildung versehen. Sie wird nicht nur als Mann erzogen, ihr wird auch ihr Geschlecht vorenthalten, sodass sie sich selbst für einen Mann hält. Zudem versucht man ihr in der Erziehung auch noch ein striktes männliches Rollenverständnis mitzugeben, wozu auch das Herabblicken auf Frauen gehört.
Als ihr die Wahrheit über ihr Geschlecht, die sie schon geahnt hat, offenbart wird, rebelliert sie und beginnt ein Doppelleben als Mann und Frau, das zunächst glücklich erscheint, aber in einer männlichen Welt voller Vorurteile und Eifersucht zum Scheitern verurteilt ist.
Die Inszenierung bleibt in der Zeit des Romans und zeigt eine Welt, die in einem männlichen Selbstverständnis feststeckt, was in Folge aufgrund von Tradition und Ehre in einem nicht enden wollenden Zyklus der Gewalt mündet.
Credit Yvonne Beck
Die hochemotionalen Inszenierungen der beiden Werke in äußerst kreativen und sehenswerten Bühnenbildern (Ausstattung: Yvonne Beck) sind ein besonderes Erlebnis, auf das man bereit sein muss, sich einzulassen. Wer das wagt, dem wird ein Abend geboten, an den Mensch noch lange zurückdenken wird. Doch letztendlich werden nur Dinge gezeigt, die tief in unserem gesellschaftlichen Verständnis verankert sind, vielleicht im Wesentlichen sogar unbewusst. Warum wir die Sicherheit zu brauchen scheinen, Geschlechter eindeutig festlegen zu müssen und welche Angst dahinterstehen könnte, wenn dem plötzlich nicht mehr so wäre, ist etwas rätselhaft.
Denn was kann schon passieren, wenn genau diese Geschlechteridentität flexibel wahrgenommen werden, wenn wir dazu bereit wären, dieses festgefrorene Verständnis aufzutauen und in ein Fließen zu verwandeln.
Credit Yvonne Beck
Zu sehen im THEATERHAUS, Kaiser-Franz-Josef-Kai 50
27.09., 28.09. 04.10. 05.10. 11.10. und 12.10. jeweils 20:00
Karten per Mail an tickets@theater-quadrat.at oder unter 0699/17162819
Credit Yvonne Beck