Eine „objektive“ Weltgeschichte in der Konsole als Zeitkapsel

Kritik: Die Zeit der Dinge, F. Wiesel

Text: Sigrun Karre - 25.06.2024

Rubrik: Theater

Tim Breyvogel (c) Lex Karelly

Vor der Sommerpause luden F. Wiesel und Schüler:innen der Ortwein-Schule zu einer virtuellen Theater-Premiere in die Konsole. Ab September gibt es eine Wiederaufnahme der spannenden Produktion "Die Zeit der Dinge".

Die dritte und letzte Saison-Produktion in der Konsole, dem „Labor“ für virtuelle Theaterformen des Schauspielhaus Graz, streckt seine Fühler aus und holt die Stadt ganz konkret ins Haus: In einer Kooperation mit Schüler:innen des Zweigs 'Bildhauerei Objektdesign Restaurierung' der HTL Ortwein (Projektleitung: Jakob Pock) wurde vom Artist in Residence-Duo F. Wiesel das Kurzstück „Die Zeit der Dinge“ entwickelt. Die titelgebenden „Dinge“, sechs teils recht futuristisch anmutende Objekte mit verschiedenen technischen Funktionen, wurden von Magdalena Folk, Kerstin J. Holzer, Lejla Kehic, Bailan J. Kirchmair und Gabriele S. Schaffer-Adenin nicht als Requisiten für die Bühnengeschichte entworfen. Vielmehr wurde das Stück um die zentral im Raum angeordneten Installationen als Hauptfiguren „herumentwickelt“ (Dramaturgie: Herbert Graf, 3-D-Animation: Michael Eisner).

Tim Breyvogel (c) Lex Karelly

Schallplatte als Player

Ganz ohne menschliches Schauspiel geht es aber nicht. Tim Breyvogel gibt als Nerd Max in den folgenden „40 Minuten rückwärts in der Zeitrechnung“ den Zeitreiseführer, Klavierspieler, Soundkünstler und Plattenaufleger. Rea (Anette Holzmann), sein Gegenüber, ist nur als Audiokonserve anwesend, die Hintergründe erfährt man etwas später. Dass Rea ausgerechnet über den „Urtonträger“, die Schallplatte, akustisch ins Spiel kommt, liefert ein charmantes Zwinkern und gibt Tim Breyvogel die Möglichkeit den Abend mit sieben farbigen Schallplatten thematisch zu organisieren und ein bisschen zu scratchen.

(c) Lex Karelly

Zu viele seltene Erden

Inhaltlich wird das Pferd quasi von hinten aufgezäumt: „Wir starten mit der Supernova“ heißt es zu Beginn. Was dann folgt sind überzeugende Textkonzentrate mit klugen Gedankenspielen, viel Poesie und Humor als Fundament eines Theatererlebnisses, das tatsächlich eine eigentümliche, „andere“ Theater- Atmosphäre erzeugt. Die Luftfeuchtigkeit ist unbeabsichtigt, aber nicht unpassend zum Anthropozän-Drama, hoch, weshalb Tim Breyvogel seinen knalligen Kostüm-Blouson zwar vorführt, aber doch auf ihn verzichtet. Die Reklame-Laufschrift, die das Inventar des Zeitkapsel-Archivs auflistet, ist immer ein wenig zu flüchtig, um möglichen Bedeutungen der Informationen konkret auf die Spur zu kommen. Zuviel Gleichzeitigkeit, um alles geistig zu sortieren, wodurch sich ausgerechnet eine sinnlichere Wahrnehmung einstellt und sich ein subtiles Gefühl von anregender Kopfleere breitmacht. Auch im Text kommt das Zuviel von fast allem in einer starken Text-Passage zur Sprache: Von scheinbar unzusammenhängenden Begriffen wie Satelliten, Astronauten, Reisegruppen, Staub oder – schönes Oxymoron – seltenen Erden.

Tim Breyvogel (c) Lex Karelly

Göttlicher Feuerbringer

Die Geschichte vom kapitalistischen Aufstieg und Niedergang des Bird-Vogels, der als genetisches Archiv weiter existiert, ist eine phantasievoll- schlaue Technik-„Fabel“, der finale Feuer-Monolog, inspiriert von einem vulkanähnlichen Objekt, erinnert – entfernt genug – an Jelineks Sonne/Luft-Text. Da dürfen dann auch mal ein griechischer Gott als Schöpfer der (in letzter Zeit etwas in Verruf geratenen) Zivilisation und ein einschlägiges biblisches Wunder Erwähnungen finden. Hauptdarsteller des Abends ist neben den interessanten Objekten der Ortwein-Schüler:innen definitiv der Text, den Hanke Wilsmann und Jost von Harleßem von F. Wiesel bis auf die Passage "Die Qualle" von Ursula K. Le Guin selbst geschrieben haben. Den musikalischen Höhepunkt via LP liefert Anette Holzmanns jazzig-verzögerte Version von Portisheads Elektronik-Hit ‚Wandering Star‘, der trotz seiner für Popmusik-Maßstäbe betagten 30 Jahre die schwebende Einsamkeit dieser seltsam entrückten „Zeit der Dinge“ atmosphärisch transportiert. Gelungenes Theaterexperiment!

Tim Breyvogel (c) Lex Karelly