Keiner sucht sich aus, wer er ist

Kritik: Die Ärztin, Schauspielhaus Graz

Text: Lydia Bißmann - 11.12.2022

Rubrik: Theater

Credit: Johanna Lamprecht

Robert Ickes Stück “Die Ärztin” greift Arthur Schnitzlers “Professor Bernhardi” nach 120 Jahren wieder auf und versetzt den antisemitischen Shitstorm rund um einen jüdischen Arzt, der einem Priester die letzte Ölung an einer sterbenden Patientin verweigert, in die Gegenwart.

Der englische Dramatiker hat sich mit der Neubearbeitung von Klassikern einen Namen als Wunderkind des britischen Theaters gemacht. “Die Ärztin” ist bislang aber sein größter Erfolg und wurde mit dem Evening Standard Theatre Award für die beste Regie ausgezeichnet. Icke greift bei dem Transfer des Schnitzler Skandalstücks ins Volle und packt nach dem Motto “Mehr ist mehr” Feminismus, Homosexualität, Rassismus, Gender-Identitäten, Kolonialismus, Suizid, Abtreibung und Demenz als Themen mit ins Geschehen. Was einem als Zuseherin am Anfang sehr, sehr viel vorkommt, geht sich im Laufe des Stücks aber aus. Am Ende des zweiten Aktes bekommt man sogar eine sehr feine Ahnung eines Auswegs aus diesem Gewissenskuddelmuddel serviert.

Credit: Johanna Lamprecht

Trugbild Identität

Regisseurin Anne Mulleners, die am Grazer Schauspielhaus schon für „Die Laborantin“ von Ella Road und „Zitronen Zitronen Zitronen“ von Sam Steiner Regie führte, hat sich für gewisse Rollen Identitäten ausgesucht, die auf den ersten Blick nicht ganz so klar sind. Die Hauptfigur Ruth Wolff, die die im Laufe der Handlung abmontierte Leiterin einer Demenz-Klinik spielt, wird von Sarah Sophia Meyer dargestellt und ist definitiv eine Frau, was auch zum Thema gemacht wird. Bei anderen Figuren werden das Geschlecht oder sogar die Hautfarbe erst durch die Dialoge und/oder die Namen klar. Dieses simple Verwirrspiel fasziniert, setzt sich im Hirn fest und stellt Stereotypen aller Art auf schöne und ganzkörperliche Weise bloß. Frauen spielen Männer, Männer Frauen und der Priester (von Mathias Lodd gespielt), der gleich am Anfang vehement des Patientenzimmers verweisen wird, ist eigentlich schwarz, was man aber auch nicht sehen kann. Was auch nicht gesehen werden müsste, in Kombination mit einer misslungenen Abtreibung mit Todesfolge zur Geschichte, zum Skandal und zur Katastrophe für Ruth Wolff anschwillt.

Credit: Johanna Lamprecht

Dialoge und Optik als Navigation

Die Geschichte entwickelt sich durch Gespräche oder Erzählungen. Aktive Handlungen sind selten. Keine leichte Aufgabe für die Schauspieler*innen, die die Dialoge aber bis zum Schluss authentisch und voll Spannung bringen. Langweilig wird es nie, auch wenn viele davon in Konferenzzimmern spielen und sich scheinbar oft im Kreise drehen. Es gibt eindeutige Andeutungen, mehr oder weniger joviale Scherze, typische Sitzungsgespräche, in denen Anträge formuliert und zurückgezogen werden, Blicke auf Unterschriftenlisten, die anwachsen und ganz plötzlich verwandelt sich eine renommierte Ärztin und Forscherin zu einer Persona non grata. Die Kreise werden zu einer Spirale, die unaufhaltsam nach unten geht. Das Bühnenbild von Vibke Andersen versetzt das Geschehen in eine Mischung aus griechischer Agora, dem Sinnbild für Demokratie, den Naziflughafen Tempelhof in Berlin oder auch einem Gefängnis. Zwischendurch werden Videos auf die Säulenkolonnen geworfen und ergeben ein gebrochenes Bild. Auch das unterstützt die Erzählung: Was kann man tatsächlich schon auf Bildern erkennen, die uns so oft als die Wahrheit verkauft werden? Teile dieser Videos werden von Sami (Daria von Loewenich) angefertigt, die sich beim Vloggen entspannt und ein erfrischender Gegensatz zur humanistisch geprägten, elitären und selbstbewussten Figur von Ruth Wolff etabliert wird. Ihre Sprache ist jung, ihre Gefühle echt, ihre Neugierde aufrichtig. Aber auch die Unschuld der kleinen Besucherin, die als Nebenfigur die menschliche Seite der toughen Klinikleiterin mit der Scheu vor Commitment (“ich zähle mich zu keiner Gruppe”) zutage bringt, muss dem Voyeurismus und der Ignoranz der Erwachsenen zum Opfer fallen.

Credit: Johanna Lamprecht

Keine Wahl

Das Stück Die Ärztin ist sicher keine gemütliche Samstagabendunterhaltung, fürchten muss man sich vor den großen Themen aber trotzdem nicht. Die konzentrierte und nuancierte Performance des Ensembles, die elegante Optik und der fast schon barocke Rhythmus der Dialoge gibt dem Stück eine gewisse Leichtigkeit und lenkt den Blick auf das Wesentliche: Die Angst vor der Tat, die Furcht, etwas falsch zu formulieren oder zu denken und die Isolation der einzelnen Individuen in einer seltsamen Zeit, die beklemmenderweise gar nicht so viel anders scheint, als vor 110 Jahren. Keiner kann sich eben aussuchen, was er ist.