Perspektivenwechsel nach Skript
Kritik: Bühnenbeschimpfung im Grazer Schauspielhaus von Sivan Ben Yishai
Text: Sigrun Karre & Lydia Bißmann - 19.12.2023
Rubrik: Theater
Die Ausstattung in dieser Saison im Grazer Schauspielhaus war bisher schon mehrfach ordentlich farb- und tüllasting. Eine weitere Steigerung in Sachen fantasievoller Opulenz scheint nach der „Bühnenbeschimpfung“ (Bühne und Kostüm: Carolin Mittler) schwer vorstellbar. Wahrscheinlicher ist, dass für diese Produktion sämtliche Tüllvorräte im Umkreis von 300 Kilometern aufgekauft wurden.
Autorin Sivan Ben Yishai hat sich 50 Jahre nach der Peymann-Uraufführung von Peter Handkes 'Publikumsbeschimpfung' den Text zur Brust genommen und die Perspektive umgedreht. Beschimpft wird in ihrem preisgekrönten Text nicht das passive Publikum, sondern die Institution Theater selbst. Das Stück 'Bühnenbeschimpfung', unter der Regie von Schirin Khodadadian, beginnt nach seinem offiziellen Ende beim Applaus. Als bunte Tüllzuckerl, mit fingerwassergewellten Haaren und rot umflorten Augen, liefern Sarah Sophia Meyer, Luiza Monteiro, Anna Rausch, Anke Stedingk und Thomas Kramer eine groteske Overstatement-Performance ab. Sie rutschen über die Bühne, versuchen einander mal mehr, mal weniger geschickt die Show zu stehlen, baden exaltiert im Applaus aus der Dose und sehen in ihren allzu bunten Ganzkörperkrausen wie eine Kreuzung aus Angora-Katze und Osterküken auf LSD aus.
Luiza Monteiro,Sarah Sophia Meyer und Anke Stedingk. (Credit: Lex Karelly)
Süße Vorurteile und bittere Tatsachen
Als Klamauk ist die Mischung aus Stummfilm-Slapstick und Dada-Komik ziemlich witzig, das Lachen schmeckt trotzdem bittersüß, da die Performance so ziemlich alle Vorurteile, die man gegenüber diesem Berufsstand haben kann, bedient. Anfangs wirken die Darstellerinnen noch etwas verloren, bis sie mit Monologen über die eigene Arbeitssituation zur Sache kommen. Die Wut scheint echt zu sein, die Lage ist definitiv prekär. Dass Schauspieler*innen gerne im Rampenlicht stehen, ist logisch, wie wenig sie dafür verdienen, nicht. Immer wieder bleibt das Lachen im Halse stecken, z. B., wenn Thomas Kramer davon erzählt, dass er am heutigen Abend nur dabei ist, weil er auftritt – die teuren Plätze vorne könnte er sich nicht leisten. Er outet sich als professioneller Ja-Sager, der stets dem Skript zu folgen hat. Da bahnt sich eine beklemmende Momentaufnahme an, wenn man bedenkt, wie weitreichend diese „Skripttreue“ außerhalb von Demokratien gerade für diesen Berufsstand war und ist. Auch in Graz, dessen dunkle Kapitel im teiladaptierten Stück angedeutet werden.
Thomas Kramer, Anke Stedingk, Anna Rausch, Luiza Monteiro. (Credit: Lex Karelly)
Publikums-TV und ein versteckter Chor
Kramers „Wut-Rede“ auf sich selbst macht Gänsehaut und ist der starke Höhepunkt, bevor es in die Pause geht. Die wäre gefühlt zwar gar nicht nötig gewesen, funktioniert aber als bewusster Cut, bevor im Teil zwei des Stücks das Publikum wörtlich ins Visier genommen wird. Die Menschen auf den vorderen Plätzen werden von den Darsteller*innen auf ihren Reihen heimgesucht, in Gespräche verwickelt, ihre Gesichter werden auf die Leinwand der Bühne projiziert, in einer Übergröße, die das Spiel mit dem Publikum an manchen Stellen fast ins Übergriffige kippen lässt. Allerdings bleiben die ihnen „unterstellten“ inneren Monologe harmlos. Souverän anstreifend quetscht sich Anke Stedingk durch die Reihen, in die sich ein Bürger*innen-Chor mischt, der in einer Art Ganzkörper-Gymnastik von Luiza Monteiro dirigiert wird. Da wird dann die Interaktion vom Störfaktor zum kollektiven Klangkörper und verfehlt ihre erhebende Wirkung nicht. Dieser schöne Moment wirkt aber eher wie eine des Effekts wegen eingeschobene Aktion, die im Stück nicht weiter nachhallt.
Luiza Monteiro (Credit: Lex Karelly)
Glanz für alle
Dass der Abend ständig den Faden verliert, ist natürlich Konzept. Text und Inszenierung kokettieren mit diesem angestrebten Mangel an Zielstrebigkeit und dem Anschein von Improvisation, die aber bis zu dem letzten scheinbaren Versprecher und spontanen Spuckattacken perfekt performt werden. Auf der Humorebene funktioniert der kurzweilig gehaltene Text von Sivan Ben Yishai recht gut, was hauptsächlich dem Spiel um die Frage zu verdanken ist: „Ist das echt, oder steht das im Skript?“. Die sanften Trigger werden im Verlauf des zweistündigen Abends allerdings weniger, der Text verliert etwas an Kraft und Tiefe. Er wird aber auch nicht mehr so gut betreut, da die Schauspielerinnen mehr mit dem Koordinieren von Statist*innen, Stühlen oder der Publikumskamera beschäftigt sind. Das ist schade, da sie glänzen. Mehr im Rampenlicht steht Anke Stedingk, die im Laufe des Abends ohne Berührungsängste als schwer vermittelbare Kindertheater-Mimin und clowneske Ulknudel die Herzen des Publikums gewinnt.
Wie das mit der Zukunft des Theaters in Teil drei gemeint ist, weiß man nicht so genau, der Schlussakt ist auch mehr Science-Fiction-Märchen als Prognose. Die Gegenwart im Schauspielhaus schillert zumindest in einer schönen Facette, als zum Schluss zuerst Statist*innen und eine ganze Menagerie an Techniker*innen den Applaus empfangen dürfen. Sicher ist, dass man sich als Zuseher*in während der zweistündigen Bühnenbeschimpfung nicht, wie "laut Skript" unterstellt, wünscht, schon daheim im Bett zu liegen, um sich Serien hinzugeben. Nicht eine Sekunde lang.