Die Aufdeckung bequemer Lügen

Kritik: Blind Date West, TiB

Text: Robert Goessl - 13.05.2024

Rubrik: Theater
Game Show aus vollen Fässern

Credit Johannes Gellner

Im dritten Teil der Europa-Trilogie des Theaters im Bahnhof führt die Projektion des Grazer Straßenbahnfahrplans auf eine Europakarte die fünf Protagonist*innen in den Westen Europas, nach Cherbourg (Helene Thümmel) und Haut-Clocher (Gabriele Hiti) in Frankreich über Bastogne (Ed. Hauswirth) in Belgien und Valkenburg (Beatrix Brunschko, Jacob Banigan) in den Niederlanden bis nach Ribe (Elisabeth Holzmeister) in Dänemark. Obwohl es zu dieser Zeit fast überall in Europa nass und kalt war, geht es sehr persönlich zu in dieser Inszenierung. Jeder erzählt seine kleinen Geschichten, seine kleinen Erlebnisse von seiner Reise und versucht diese dann doch irgendwie in der großen Welt zu verankern.

Das Ganze startet rasant als Game-Show in den europäischen Farben goldgelb und blau - man steht also in direkter Konkurrenz zueinander: Jeder erhält ein kleines blaues Fass mit Bällen, die Punkten entsprechen, und obwohl man sich zu Anfang schon einmal kräftig aus dem großen blauen Fass bedienen darf, ergibt sich das Gefühl, dass sich in den nächsten 90 Minuten jeder auf der Bühne selbst der nächste ist. Man zeigt sich spielfreudig in Gier und Rücksichtslosigkeit unter der Moderation von Beatrix Brunschko aus dem Off, der damit die Härten des Game-Show-Lebens damit erspart bleiben.
Ein Fass zur freien Entnahme

Credit Johannes Gellner

The show must go on!

Im ersten Spiel gilt es eine kleine Lüge in einer Geschichte zu entlarven, die jeder über seine Reise erzählt. Es geht um Angst vor Wiederaufbereitungsanlagen, ein Atom-U-Boot im Museum mit der Werft daneben, wo die neue Generation zur Abschreckung gebaut wird, um freiwillige Selbstausbeutung, unter einer prinzipientreuen bestimmten Herrschaft auf einem Gemüsefeld samt der Schwierigkeit zu Zigaretten zu kommen, darum stilgerecht in Belgien mit einem Fahrrad anzukommen und in einem Café zu landen samt Verständigungsschwierigkeiten, um eine Stadt, verkommen zu einer Kulisse für Touristen mit einer Sommerrodelbahn und mit einem Tunnelsystem, tauglich als Atombunker und genutzt für Weihnachtsmärkte, und einer Altstadt ohne Menschen aber mit grausamen Hexengeschichten aus der Vergangenheit.
Wasser auf die Mühlen der Demütigung

Credit Johannes Gellner (Jacob Banigan)

Es macht keinen Spaß, Verlierer zu sein

Dabei gibt es natürlich Verlierer, die dann ohne Bälle dastehen, und sich zur Strafe auf ein Brett, dem "Konsequenz-Platz", zu begeben haben, um mit Wasser besprüht zu werden – eine sichtbare öffentliche Demütigung. Alles nur Show für die Quote – oder versucht man da doch ein wenig sich selbst seiner Privilegien der europäischen Herkunft im gesicherten Lebensraum zu berauben? Schneller als man denkt, landet man auf der Straße als Musiker und ist vom Wohlwollen der anderen abhängig.
Helene Thümmel als Mittelpunkt im Tor der Fass-Skulptur

Credit Johannes Gellner (Helene Thümmel)

Die Suche nach Vergangenheit und Gegenwart

Was liegt also näher, als Wahrnehmungsverzerrungen zu installieren, Emotionen auszulösen oder Schuldgefühle zu implementieren? Es werden die kleinen und großen Fässer benutzt, um weiter Kulissen aufzubauen, sich darin zu verbergen, die Geschichten gehen weiter und werden persönlicher, doch was sucht man oder was hofft man zu finden? "Wär ich Marokkanerin, würde ich vielleicht für 5 Euro pro Tag in heißen Gewächshäusern in Marokko Erdbeeren pflücken. Oder in Frankreich Spargel ernten, für immerhin 4 Euro die Stunde. Und mit etwas Glück bin ich für meinen Arbeitgeber nur Arbeitssklavin und nicht Sexsklavin. Aber ich bin Österreicherin und kann es mir leisten, ein bisschen reinzuschnuppern in diese Knochenarbeit zumindest für 10 Tage halt solange mein Körper das mitmacht. Mit ein bissl Yoga und Selbstdisziplin ist das schon zu schaffen." Vielleicht etwas Geborgenheit und Liebe, die sich in Scham verläuft, oder eine Möglichkeit, sich seinen Ängsten zu stellen oder verklärte Vergangenheit in Wahrheit umzuwandeln? "Warum steht da nicht: Hier lebte Maren Splid, eine der unzähligen Frauen, die in der Schreckensherrschaft der Kirche und des Patriarchats, unschuldig denunziert, beinahe zu Tode gefoltert und schwerst verletzt verbrannt wurde, weil irgendwelche frauenhassenden Psychopathen im Namen des Christentums – der Religion der Nächstenliebe-, ich erspare uns jetzt die Aufzählung der Täter, sich abstrusen Schwachsinn ausgehirnt haben um Frauen zu foltern, zu töten und ihnen die Schuld an Naturkatastrophen, Unglücken und Krankheiten zu geben."
Im Gemüsetunnel der Arbeit

Credit Johannes Gellner (Gabriele Hiti)

Katastrophen einst und jetzt in Museumsqualität

Das Spiel gerät in den Hintergrund, die Show beginnt zu stocken, überall werden die Katastrophen spürbar: Ausgehend von den Wunden des 2. Weltkriegs, mit unzähligen Gedenkstätten und Denkmälern versehen, der wieder erstarkten atomaren Bedrohung bis hin zum realen existenzbedrohenden Hochwasser in Valkenburg oder dem trivialen Stromausfall im Europäischen Parlament, bleibt die Wut, in einer Kulisse festzustecken, die im Zweifel mit Staatsgeldern wiederaufgebaut wird oder die einfach nur gruselige Schauergeschichten aus der Vergangenheit verkauft, sauber und bequem, und vor allem einfach und leicht konsumierbar, auch wenn da plötzlich überall Brüste zu sein scheinen – zumindest für Beatrix Brunschko in Valkenburg.
Ein Ed. im Fass

Credit Johannes Gellner (Ed. Hauswirth, Elisabeth Holzmeister)

Ein Fluch für die Zukunft

Zwischen Faulheit und Reisestress gefangen in First World Problems – gefühlt nur Befindlichkeitsstörungen als kleine Abweichungen von der Gewohnheit - folgt ein Fluch von Elisabeth Holzmeister als Aufschrei, ein Rausbrüllen einer Hilflosigkeit, der vor allem eine Frage hinterlässt: Sind wir noch im Spiel oder spielen wir nicht längst schon nur mehr in einer Kulisse, die wir in unseren Köpfen errichtet haben? "I’m not sure, if I’m telling a True Story. Or, there is a lie in it somewhere..."
Jacob erholt sich von den Reisestrapazen

Credit Johannes Gellner (Jacob Banigan, Beatrix Brunschko)

Die Inszenierung hinterfragt unter großem Einsatz der Beteiligten ein europäisches Selbstverständnis, ausgehend von persönlichen Erlebnissen und Gedanken und lässt so manche Selbstverständlichkeit fragwürdig erscheinen. Sie zeigt eine Gedankenwelt als Gewohnheit, in die wir uns gerne immer wieder zurückziehen, ein Europa, das einfach nur noch besteht, weil alles schon immer so war, in der Hoffnung, es möge ein Ruck durch die Gesellschaft gehen und so manchem Aufschrei auch Taten folgen. Insgesamt ist es ein Abend, der trotz seiner zeitweiligen Rasanz zum Nachdenken und zur Selbstreflexion anregt.
Liz verflucht die Welt

Credit Johannes Gellner (Elisabeth Holzmeister)

Teil drei "Blind Date West" ist noch zu sehen am 16.05., 17.05., 18.05. Mit Teil eins und zwei an drei Tagen hintereinander: 23.05. "Blind Date Ost" 24.05. "Blind Date Mitte" 25.05. "Blind Date West" 30.05. "Blind Date Ost" 31.05. "Blind Date Mitte" 01.06. "Blind Date West" (immer um 20:00) Und für Menschen mit etwas mehr Sitzfleisch gibt es alle drei Teile auf einmal am Sonntag, dem 02.06. um 17:00 Kartenlink
U-Boot in die Zukunft

Credit Johannes Gellner (Jacob Banigen, Helene Thümmel)