Auf der Suche nach Europa von Kaunas bis Kassel
Kritik: Blind Date Ost und Mitte, TiB
Text: Sigrun Karre - 01.05.2024
Rubrik: Theater
Europa wählt. Der österreichische Teil Europas am 9. Juni. Daher hat(te) es das TiB eilig mit seiner Europa-Trilogie, nach Recherche-Reisen im Februar standen gleich zwei Premieren, Blind Date Ost und Blind Date Mitte, im April an. Beide sehenswert!
Passend zur diesjährigen EU-Wahl hat sich das Theater im Bahnhof für die erste Jahreshälfte die Produktion einer Europa-Trilogie vorgenommen. Da das TiB in seiner Arbeit immer auch aus dem persönlichen Erfahrungsschatz und Umfeld schöpft, ist man zwecks Feldstudie nach Europa ausgeschwärmt. Die Auswahl des jeweiligen Reiseziels wurde dem „systematischen Zufall“ überlassen, konkret dem Wohnort: Der GVB-Fahrplan wurde über die Europa-Karte gelegt, die nächstgelegen Haltestelle der jeweiligen Wohnadressen bestimmte den Ort, den es zu erforschen galt. Danach wurde streng geografisch kategorisiert: Ost, Mitte und West, daraus entstanden drei Produktions-Teams, die je einen Teil der Europa-Trilogie gemeinsam entwickelten.
Rupert Lehofer, Moni Klengel (v.l.n.r.), Credit: Johannes Gellner
Titanic Europa?
Während sich in Teil 1, dem Blind Date Ost (Premiere: 12.04.24), Helmut Köpping als mit Verve simulierender „Ozeanpianist“ ausdauernd am Playback (u. a. des Titanic-Titelsongs) abarbeitet, ist eine hungrige Clown-WG (Juliette Eröd, Monika Klengel, Rupert Lehhofer und Lorenz Kabas), mit an Bord. Zu den roten Perücken passt auch die weinselige Faschings-Nummer „Wer soll das bezahlen“ als Untertitel irgendwie dazu.
Man laboriert in unterschiedlichem Schweregrad an WG-Koller, zu laut ist es und das mit dem Geben und Nehmen funktioniert auch nicht reibungslos. Als Dreh- und Angelpunkt des Bühnen-Geschehens dient der Kühlschrank, bestückt mit kulinarischen Mitbringseln von den Ost-Europa-Reisen. Auch E-Geräte haben Potenzial als Europa-Metapher: „Im Sinne der Gemeinschaft wäre es schon gut, wenn jeder was reingibt“.
Hoch amüsant ist Monika Klengels männerlastiger Ostrava-Reisebericht, der sich um ein Dating-Desaster mit einem verpeilten Kunsthändler und das maskuline Antlitz der tschechischen Industrie-Stadt in Gestalt von Schloten, Türmen und Statuen proletarischer Heroen dreht. Lorenz Kabas begibt sich im polnischen Wroclaw auf die Spuren des avantgardistischen Theaterregisseurs Jerzy Grotowski, dessen Theorie der Überwindung des dressierten Körpers er auf der Bühne in einem herrlich überdrehten Performance-Experiment erprobt.
Juliette Eröd ist davon überzeugt, dass wir alle miteinander verbunden sind. Sie hat aber keine spirituelle, sondern eine ganz handfeste Erklärung dafür: Die Gasleitungen, die im rumänischen Cluj sichtbar zum Straßenbild gehören, sorgen für den europäischen Zusammenhang- und Beklemmung. Kein*e Europäer*in, wer bei Gas nicht nur an Russland, sondern auch an den Holocaust denkt. Wenn Eröd die europäische Zeitgeschichte gedanklich zur Tragödie der eigenen Familiengeschichte führt, kippt der Witz augenblicklich in Entsetzen. Gänsehaut gibt’s, wenn sie von der Kühlschrank-Kanzel herunter Hanna Arendt mimt und zitiert. Und als dann Rupert Lehhofer, der zuvor noch ausführlich eine Lobeshymne auf die fleischlastige Küche Litauens formulierte, beim KZ-Besuch in Kaunas verwundert feststellt: „das Weinglass habe ich nicht mitbedacht“, ist das einer der größten Momente des Abends, der vielschichtige Gefühle triggert.
Eine ausgerollte Video-Leinwand lässt visuell noch einmal die Reiseeindrücke Revue passieren und verdichtet den atmosphärischen Sog: ‘Freiheit’ steht da auf einem Boot, das im Hafen schaukelt. Und hoffentlich nicht untergeht. Die Regie (Lorenz Kabas, Heike Barnard und Team) spielt mit vielen kleinen Bildern und Links, sie schafft ein unprätentiöses und dabei sehr kluges, feinsinniges Theatererlebnis, das trotz teils extra-schwerer Kost luftig bleibt und viel assoziative Freifläche lässt.
re. Moke Klengel, Credit: Johannes Gellner
Ab nach Kassel!
Teil 2 der Europa Triologie, Blind Date Ost (Premiere 26.04.2024) führte alle aus der „Reisegruppe Mitte“ nach Deutschland. Auf der Bühne findet man sich – ganz europäisch-seriös – als eine Art „Theaterrat“ an fünf mit Mikrofonen, Wasserglas und Bilder-Stehblock ausgestatteten Pulten ein, die nebeneinander frontal zum Publikum angeordnet sind. Man übt sich in angewandter Demokratie. Die Inszenierung des Theaterstücks ist Gegenstand von Abstimmungen, erschwerend kommt hinzu: nur einstimmige Entscheidungen werden umgesetzt. Dieses dramatische On/Off-Spiel und vermeintliche Improvisation bringen Dynamik in die Inszenierung.
Eva Hofer wundert sich in Kassel über fehlende EU-Wahlplakate und erläutert den Unterschied zwischen Kasselener, Kasselaner und dem gewöhnlichen Kassler. Sie löst das städtische Müllentsorgungsproblem individuell auf vier (Kinderwagen-)Rädern. Für sie gibt es in Kassel viel Stoff zu reflektieren: WK2-Luftangriffe, den jüngsten documenta-Skandal, oder die deutsche Wiedervereinigung, die Kassel vom Rand in die goldene Mitte katapultiert hat. Man hört ihren oft scharfsinnigen Gedanken gerne zu, die an manchen Stellen literarische Qualität bekommen und auch vor Selbstzweifeln auf höherem Niveau nicht Halt machen: „Bin ich infiltriert von fehlgeleiteter Zeitgenossenschenschaft?“
Eva Hofer, Pia Hierzegger, Martina Zinner (v.l.n.r), Credit: Johannes Gellner
Geteilte Mitte
„Der Osten ist die beschissenste Himmelsrichtung, zumindest in Europa“, findet Pia Hierzegger, die zugibt, dass sie in das Leipziger Stadtleben nicht so tief eintauchen konnte, weil sie ständig am Materialsammeln war. Beim Untertitel „Sind wir noch zusammen“ denkt man in Hinblick auf Deutschland sofort wieder an trennende Himmelsrichtungen. Ost und West waren im Geiste schon einmal vereinter als aktuell. In Pia Hierzeggers Erzählung bekommt die Frage ganz konkretes Gewicht, belauscht sie doch einen Trennungs-Dialog eines Paares, in dem ein geografisches Herkunfts-Gefälle herrscht: „Ich bin der gewordene Traum einer Westdeutschen, die sich in dich verliebt hat“, macht eine Passantin dem ostdeutschen Noch-oder-Nicht-mehr-Freund die Hierarchien klar.
Johanna Hierzegger, Pia Hierzegger, Martina Zinner (v.l.n.r.), Credit: Johannes Gellner
Fade Provinz-Schönheit mit Vergangenheit
Moke Klengel, im Verlaufe des Abends im regen Briefwechsel mit Martina Zinner, beeindruckt die "undeutsche" deutsche Gelassenheit gegenüber der unzuverlässigen Deutschen Bahn. Im kleinstädtischen Memmingen voller Fachwerkbauten angekommen, ist es sehr sauber und bald sehr langweilig: „Ich schlafe sehr viel in Memmingen“, lässt er Martina Zinner wissen. Etwas mehr los als aktuell war in der ein paar Jahrhunderte zurückliegenden Geschichte der Stadt im Allgäu. Immerhin gab es hier im 16. Jahrhundert Bauernaufstände, bei denen für die Freiheit von der Leibeigenschaft gekämpft wurde. Also streng genommen: kein Europa ohne Memmingen.
Vermisst wird Moke Klengel von Martina Zinner in Erfurt, die ihm – der deutschen Romantik geschuldet, die zum 250. Geburtstag von Kaspar David Friedrich 2024 wie eine rosa Jubiläumswolke über Deutschland schwebt – Briefe schreibt, eine einschlägige Sonderausstellung besucht und Erfurt in einem Blaudruck-Workshop farblich ergründet.
Johanna Hierzegger, Credit: Johannes Gellner
Deutsche Romantik & DDR-Punk
Johanna Hierzegger gerät in Stuttgart in ein „Science-Fiction-Horror-Drama aus Versehen“ und vertieft sich im Kino in die Doku über die DDR-Punk-Band „Schleimkeim“. Auch hier geht es um Ost und West und die Wiedervereinigung als persönliche Schicksalswende. „Lass den Mercedes stehn“ rotzte “Schleimkeim”- Bandleader Otze gegen den westdeutschen Fetisch Nr. 1, den Drogen in der BRD war Otze fatalerweise nicht so abgeneigt. Ob Evas Hofers verhuschtes Wiedererscheinen samt Beil und Clown-Perücke mit Otzes Vatermord zu tun hat, erschließt sich nicht ganz, aber der kleine Link zu Teil 1 der Trilogie lässt schmunzeln.
Inspiriert vom Ossi-Punk greifen die Össi-Schauspielerinnen Pia Hierzegger und Martina Zinner zu E-Bass, Mikro und einer Überdosis Haarspray. Viel vom Text versteht man genrebedingt zwar nicht, aber die sensationelle Performance reisst im richtigen Moment aus dem angewärmten Sessel. Am Ende gibt es noch einmal „Deutsche Romantik all over“ , nämlich in Bild und Ton.
Die ersten beiden Teile der Trilogie beweisen einmal mehr, dass das TiB-Ensemble einerseits natürlich aus sehr guten Schauspieler*innen besteht, die besonders in einem kleinen Rahmen mit Nähe zum Publikum ihre Spielkraft voll entfalten können. Das eigentliche TiB-Spezifikum ist aber, dass wirklich alle im Ensemble eigenständige künstlerische Persönlichkeiten sind. Im Idealfall potenzieren sich in der Teamarbeit Humor, Intellekt und Kreativität... Bei Blind Date Ost und Mitte ist das ganz wunderbar geglückt.
Teil drei der Trilogie: Blind Date West, „Das Wasser steigt” ist ab 10. Mai im TiB-Quartier zu sehen.