Theaterexperiment im Gefängnis
Kritik: Biedermann und die Brandstifter in der Karlau
Text: Lydia Bißmann - 20.04.2024
Rubrik: Theater
Julia Gratzer hat mit dem Musiker Lothar Lässer und neun Insassen der Justizanstalt Karlau eines der meistgespielten und nervigsten Dramen des Schweizer Moralisten Max Frisch inszeniert.
Gemeinsam mit den Häftlingen wurde dem Stück unter dem Namen ”Biedermann und die Brandstifter – Ein Lehrstück der Karlau Über-wachen und Verschlafen nach Max Frisch” auch textlich und musikalisch ein neuer Drive verliehen. Der Haarwasser-Händler Gottlieb Biedermann (Daniel) bekommt statt seiner Frau einen Bruder Walter (Max) an die Seite gestellt. Das Brandstifter-Duo Sepp Schmitz (Mike) und Willi Eisenring (Thomas) wird mit einem klassenkämpferischen Motiv ausgestattet, was den Figuren mehr Plastizität verleiht und sie gemeinsam mit dem Michel Foucault zitierenden Dr. phil. (Karl) zu heimlichen Helden macht. Mike brilliert mit Punk-Verve und legt zum Schluss des Stückes noch ein legendäres Gesangsolo mit E-Gitarre hin. Der Chor (Josi, Helmut, Sascha) unter der Leitung von Lothar Lässer brilliert mit konzentrierten Klang-Moritaten, die für Kurzweil sorgen, derweil man darauf wartet, dass der vertrottelte Biedermann oder seinem Haushalt endlich ein Licht aufgeht. Das tut es natürlich nicht, obwohl Butler Anton (Helmut) nicht mit warnenden Worten und verzogenen Gesichtern spart. Der Polizist (Joshua) spricht nicht, ist aber umso überzeugender und fügt der Tragödie als Witwe Knechtling im meterlangen Trauerschleier jede Menge absurder Komik hinzu.
Credit: Mirza Kahriman
Slapstick und Diskussion
Das Stationentheater beginnt im hell gestalteten Erdgeschoß des Gefängnisses, wo man durch die Innenwände sehen und die Truppe beim Umziehen beobachten kann und endet in der wunderschönen Anstaltskirche unter den Fenstern von Adolf Osterider. Zwischendurch dürfen die Zuschauer:innen an einer großzügigen Tafel neben den Schauspielern Platz nehmen und mit ihnen diskutieren, wann der vertrottelte Biedermann wie hätte reagieren sollen. Hier ist die Truppe in Höchstform – die Augen glänzen und die Witze rutschen wie von selbst, perfekt getimet von den Lippen der Laiendarsteller, die hier schon gekonnt und locker improvisieren.
Credit: Mirza Kahriman
Bewusstseinserfahrung im Theater
Seit Herbst proben Julia Gratzer und Lothar Lässer, die schon an der Bürger:innen-Bühne am Grazer Schauspielhaus miteinander gearbeitet hatten, an der Inszenierung, die eigentlich für das Graz Kulturjahr 2020 gedacht gewesen ist. Aus den bekannten Gründen musste umdisponiert werden und erst vier Jahre danach konnte nach einem Nestroy-Hörstück endlich im Gefängnis selbst gespielt werden. Das Resultat ist ein berührendes, aufwühlendes Stück Theater, das sich in die Herzen und Hirne des Publikums einbrennt und die Grenzen der Theatererfahrung ordentlich ausdehnt.
Produktionsleitung: Sepp Riedl & Julia Gratzer
Regie: Julia Gratzer
Musik: Lothar Lässer
Textbearbeitung: Andrea Stift-Laube
Bühne: Karin Eingang
Kostüme: Philipp Glanzner
Technik: Stefanie Stiller