Szenische Lesung im Atelier *12

Kritik: .. beziehungsweise LIEBE ? …, Mona May

Text: Robert Goessl - 25.04.2024

Rubrik: Literatur

Credit: Robert Goessl

In diesem offiziell als „Post-Pandemie-Stück“ untertitelten Werk, gelesen von Katarina Aschauer und Martin Brachvogel,  treffen zwei Menschen aufeinander, ein Paar, das sich in einer langjährigen Ehe bis zur Unkenntlichkeit der Beziehung auseinandergelebt hat. Kurz nur „Sie“ und „Er“ genannt, scheinen beide einander fremd geworden zu sein, und das nicht, weil sie voneinander getrennt waren, sondern, weil sie gemeinsam lange Zeit in ihrer Wohnung miteinander verbringen mussten.

Leben als Experiment?

Doch so klar ist die Situation nicht – denn irgendwie scheint es zu Anfang, als hätten die beiden das Ende der Pandemie versäumt, also die gemeinsame Isolation noch jahrelang weitergeführt. Sind sie Teil eines Experiments? Oder haben sie stillschweigend beschlossen, sich selbst als Experiment wahrzunehmen und dabei das Publikum gleich miteinzubeziehen? Man sitzt einander jedenfalls gegenüber. In sicherer Distanz - ist man einander nahe genug oder entfernt genug, um sich sicher zu fühlen? Es scheint  ein unsichtbares Gefängnis zu geben, in dem sich jeder der beiden befindet, und es ist schwer zu sagen, ob sich die beiden in diesem vielleicht nicht sogar ein bisschen wohlfühlen. Zumindest haben sie sich unabhängig voneinander eine scheinbare Geborgenheit geschaffen.  Im Gespräch seziert man einander mehr oder weniger liebevoll, verlässt dabei anfangs aber selten die Deckung, ohne zu bemerken, dass man das emotionale Skalpell dabei vor allem an sich selbst ansetzt. Aber alles geschieht mit Bedacht - nur ab und zu blitzt etwas an der Oberfläche hervor - wenn es emotional sein muss.  Jetzt. Gerade jetzt. Als spontanes Bedürfnis. Als Unfall beim gegenseitigen Abtasten, beim Herausfinden, was möglich ist, wie weit man selbst gehen kann, um dabei selbst zu bleiben.

„Er“ – Perfektion als Versteck

Er erscheint als ein Muster aus Sauberkeit, Sachlichkeit und Klarheit bis hin zum Waschzwang und übersieht dabei seine Unnahbarkeit auf seiner Suche nach Perfektion, die allzu oft, um dabei keine Fehler zu machen, in schlechten Witzen mit grenzwertigem Reimzwang endet. Aus Angst vor der Umwelt, aus Angst ihr zur Last zu fallen, als Angst vor sich? Alles wird vorgeschoben, um sich nicht wirklich mit ihren Wünschen und Gefühlen beschäftigen zu müssen.  Aus Angst davor sie zu verlieren? Oder sind diese Wünsche und Gefühle nicht doch auch seine? Er stellt seine eigenen Bedürfnisse zurück, zumindest scheinbar vor sich selbst, und versucht verzweifelt so etwas wie Wahrheit im Leben zu finden. Obwohl er Wahrhaftigkeit sucht:

„Mich quält ein Hunger, der so unermesslich groß ist, und ein grausamer Durst dazu, nach Leben und nach noch mehr von diesem Leben, nach diesem anderen Leben.“

Robert Goessl

„Sie“ – Begehren & Begehrenswert

Sie sitzt ihm ratlos gegeben über, zunächst nur ein wenig emotional und auch ein wenig fordernd. Vor allen wirkt sie von seiner Kälte etwas hilflos und enttäuscht auf ihrer Suche nach Zuneigung und Gefühlserwiderung.  Sie entwickelt sogar eine krankhafte Eifersucht, nur, um von ihm wieder mehr „bemerkt“ zu werden oder doch nur, um dem kalten Menschen neben sich das Gefühl zu geben, doch begehrenswert zu sein?Immer wieder startet sie Versuche, fast wie Hilferufe, um ihn aufzubrechen, etwas von ihm spüren zu können, doch er flüchtet ständig:

„Würden alle so denken, handeln und fühlen wie du, [..] dann bestünde die Welt aus Menschen, die das Leben quälen, indem sie sich selbst quälen, was wiederum andere quält.“

Der Aufbruch in die Welt des anderen

So haben „Sie“ und „Er“ in sich eigene Realitäten entwickelt, um sich in dieser Situation zurechtzufinden, die aber jeweils mit Zwängen behaftet sind, um ihre Sehnsüchte voreinander zu vertuschen. Sie wagen es lange nicht, einander die Wahrheit über ihre Empfindungen zu sagen, auch weil sie mitunter verlernt haben, diese selbst wahrzunehmen. Doch das gegenseitige Eingestehen der eigenen Ängste, die Bereitschaft dem anderen gegenüber auch etwas Wahrhaftiges von sich herzugeben, lässt das scheinbare Gefängnis, in das sich jeder von den beiden begeben hat, am Ende bröckeln. Das Stück zeigt, dass es keiner Pandemie bedarf, um einander fremd zu werden; vielleicht hat sie nur einen schleichenden Prozess bescheinigt. Man begann zu vergessen, etwas gegenüber dem anderen zu riskieren, aus Angst, einen Fehler zu machen und die scheinbar sichere emotionale Situation aufs Spiel zu setzen. Dabei hat man nicht bedacht, welchen Preis man dafür zu bezahlen hat: sich selbst und einander fremd zu werden:
„Ich will mich wieder wie ich fühlen, nicht wie ein Fremder.“