"Das Märchen war und ist ein Spiegelbild unserer Seele "

Interview: Folke Tegetthoff, Märchenerzähler

Text: Sigrun Karre - 07.02.2024

Rubrik: Literatur

Folke Tegetthoff mit seinem zuletzt erschienenem Buch "Der Augenblick der Kinder". Gechichten über 25 Kinder aus 20 Ländern.

Folke Tegetthoffs märchenhafte Karriere begann vor 45 Jahren. Er hat nicht nur zahlreiche Bestseller geschrieben, sondern auch als Märchenerzähler die Welt bereist und Europas größtes Storytelling Festival initiiert. KUMA sprach mit ihm anlässlich seines 70. Geburtstags über die Macht des Märchens, Social Media und Liebe als Motor.

Allerorts hört man, dass in einer Welt des Umbruchs wieder verbindende, sinnstiftende Narrative benötigt werden. Kann das die Erzählung, das Märchen heute noch leisten?

Was oder wer anderes als die Erzählung könnte das leisten? Wichtig ist doch, endlich zu realisieren, dass „Erzählung“, was plötzlich als „Narrativ“ bezeichnet wird, nichts mit „Lüge, Schwindel, Verdrehung der Wahrheit“ zu tun hat. Erzählen bedeutet, Persönliches in seine Rede einfließen zu lassen. Wohin die reine Ratio uns gebracht hat, weiß und verspürt jeder. Voraussetzung für jede Erzählung – dies gilt für alle Ausdrucksformen – ist, dass wir mit Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit agieren.

Realität ist immer auch narrativ definiert; können wir uns – frei nach Pippi Langstrumpf – die Welt so fabulieren, wie sie uns gefällt?

Das tut doch der Mensch von Beginn seiner Entstehung an – wie sollten wir denn sonst unsere Wirklichkeit verstehen, als durch unsere Sinne definiert? Schlimm – für mich sehr schlimm, wird die neuen Medien – und da schließe ich auch schon das Fernsehen mit ein – "Wirklichkeit" erfinden, also den Menschen eine Realität vorgaukeln, die manipulieren soll. Das geschieht heute jeden Augenblick auf Social-Media-Kanälen.

Das Buch als Medium ist in seiner Bedeutung von Film, TV und Internet verdrängt worden. Konservativ betrachtet ist der Verlust des Kopfkinos ein Verlust der Phantasie. Andererseits würde heut z.B. niemand die Filmkultur missen wollen. Ist es nicht so, dass das Schreckgespenst des drohenden Kulturverlusts eine Chimäre ist, und sich Kultur immer weiterentwickelt, neue Wege und Ausdrucksformen sucht?

Natürlich, so war es immer. Jede Kulturform, wenn sie sich dem Ende zuneigt, lässt daraus etwas Neues, Anderes entstehen. Bei jedem Paradigmenwechsel der Menschheitsgeschichte – und davon gab es sehr, sehr viele – nehmen wir, die im Auge des Hurrikans der Veränderung stehen, nur ansatzweise etwas davon wahr. Erst im Rückblick lässt sich die gesamte Bedeutung entscheidender Schritte erkennen. Wer hätte 2007, als Steve Jobs das erste iPhone präsentierte, erahnen können, wie sich in nur 17 Jahren unser gesamtes Kommunikationsverhalten und der Blick auf unseren Alltag derart radikal verändern würde? Nicht einmal er selbst und die klügsten Köpfe hatten es vorhergesehen. Das Buch ist natürlich nicht tot, aber es hat seine kulturpolitische Funktion verloren. Noch vor 20 Jahren hätte ein Bildungsbürger niemals gewagt auszusprechen, dass er kein Buch liest. Die meisten der heute Zwanzigjährigen erzählen dies mit Stolz. Auch ok.

Seit es Sprache gibt, erzählen sich Menschen Geschichten. Worin besteht die Weisheit des Märchens?

In dem Augenblick, als Menschen begannen, ihre Hoffnungen, Sehnsüchte und Ängste in Worte zu kleiden, begannen sie, Geschichten zu erzählen. Das Wesentliche des Märchens – und ich meine nun ganz bewusst nicht die Literaturgattung Märchen, sondern vielmehr die Philosophie, die hinter dem Mythos steht – ist seine Fähigkeit, von Dingen zu erzählen, die außerhalb unseres Vorstellungsvermögens liegen, und zwar so, als wäre es das Selbstverständlichste. Aus diesem Wunsch und der Notwendigkeit, das Unerklärliche – zum Beispiel den Tod – zu erklären, entstand der Mythos. Daraus entstanden die Religionen, und daraus entstand dann auch das, was wir heute unter Märchen verstehen.

Dass Märchen nicht nur „harmlose“ Geschichten für Kinder sind, hat man in der Psychoanalyse und Psychotherapie früh erkannt. Helfen uns Märchen, uns selbst besser zu verstehen, indem sie menschliche Emotionen spiegeln?

Es wäre schön, wenn diese Erkenntnis nicht nur Analytikerinnen und Analytiker hätten. Das Märchen war und ist ein Spiegelbild unserer Seele und unverzichtbar für unser Erwachsenwerden. Zumindest war es das bis jetzt.

Tegetthoff auf Lesereise in Japan. Credit: privat

Was unterscheidet ein Märchen des 21. Jahrhunderts in Form und Funktion von z.B. einem Andersen-Märchen?

Wenn es ein gutes Märchen ist – gar nichts! Ein gutes Märchen, nach meiner Definition, ist nicht nur losgelöst von Zeit und Raum, sondern auch von den sehr engen Erkenntnissen der jeweiligen Zeit. Diejenigen, die gerade das Sagen haben, halten ihr Gesagtes für das einzig Richtige. Ein Blick in die Vergangenheit sollte uns lehren, wie falsch wir damit liegen. Und trotzdem erliegen wir diesem Urteil immer wieder. Ein gutes Märchen überlebt dies alles. So hoffe ich, dass meine Märchen auch in 100, 200 Jahren noch gelesen und verstanden werden, weil sie etwas Allgemeingültiges zum Ausdruck bringen. Mit dieser Intention habe ich sie zumindest geschrieben. Schauen wir mal.

In ihrer Kindheit in den 1960er Jahren galten Märchen teilweise als reaktionär, spießig und pädagogisch bedenklich. Sind sie selbst mit Märchen aufgewachsen?

Dies ist eine Geschichte, die über Jahrzehnte transportiert wurde und immer noch unreflektiert weitergegeben – und weiter erfragt – wird. Das stimmt überhaupt nicht. Man muss das Märchen und wofür es steht, im Kontext der damaligen Zeit betrachten: Nicht mehr die eigene Phantasie, nicht die direkte Kommunikation standen im Mittelpunkt, sondern die Technologie des Fernsehens, also die Realisierung des wahrlich märchenhaften Traums der „Glaskugel, mit der ich die ganze Welt erfahren kann“! Wenn das Märchen zur Wirklichkeit geworden ist, muss ich es ja nicht mehr so wichtig nehmen. Aber: Das Märchen hat Tausende von Jahren überlebt, und so wird es auch bleiben. Ich und meine Arbeit sind ja Beweis dafür. Und: Natürlich bin ich mit Märchen aufgewachsen, sonst würden Sie dieses Interview ja nicht mit mir führen wollen!

Hatten Sie als Kind ein Lieblingsmärchen?

Das Lieblingsmärchen meiner Kindheit ist es bis heute geblieben: Des Kaisers neue Kleider! Für mich das beste Märchen, das jemals geschrieben wurde!

Folke Tegetthoff als Märchenerzähler in den frühen 1980ern, Credit: privat

Wie sind Sie vor 45 Jahren auf die Idee gekommen, Märchenschreiber und -erzähler zu werden? Oder ist Ihnen dieser Weg „passiert“?

Ich bin eines Morgens aufgewacht, da saß eine Fee an meinem Bett, hat mir ins Ohr geflüstert „Folke, steh auf, du bist Märchenerzähler!“, ich bin aufgestanden und war’s…

Das von Ihnen initiierte 'Austrian International Storytelling Festival' will aktives Zuhören erfahrbar machen. Ist das ein Rezept gegen die gegenwärtige Krise unserer Gesprächskultur und somit auch demokratiefördernd?

Für mich ist ein ganz wesentliches, demokratieförderndes Element, Menschen zu motivieren, mit dem, was sie zu sagen haben, herauszukommen und es zu kommunizieren. Denn nicht Systeme zerstören, sondern diejenigen, die dazu schweigen oder sie hinnehmen. Deshalb: Hut ab vor der jetzigen, jungen Generation, die endlich wieder aufsteht und protestiert! Und zum Festival: Von Beginn an standen wir für Toleranz und Andersartigkeit. Von Anbeginn an erzählten bei uns Palästinenser und Juden, Menschen aller Hautfarben, Kulturen und Religionen auf einer Bühne. Denn nur die Geschichten sind es, die einen Anstoß zu Gemeinsamkeit geben können.

Was macht gutes Erzählen aus - und was gutes Zuhören?

Das ist mehr als einfach zu beantworten: Wenn ich als Erzähler jemanden finde, der mir atemlos und gebannt zuhört, habe ich es richtig gemacht. Punkt. Das gilt für die Bühne genauso wie für den Alltag. Und genau das gilt auch für das Zuhören: Ich, der Zuhörer, habe alle Macht in Händen. Ich bin es, der das Gegenüber zum Erzählen motivieren oder es auch abwürgen kann.

Sie haben 1,6 Millionen Bücher verkauft, die Welt mit ihren Vorträgen und Lesungen bereist, bezeichnen aber Ihre höchst erfolgreichen Projekte bescheiden als „Vehikel zum Erreichen des wahren Zieles: Liebe zu erfahren und zu geben.“ Was bedeutet Liebe für Sie?

Was gibt es Wichtigeres, als Liebe zu erfahren – und zwar in welcher Form auch immer: Zur Natur, zu Gott, zu einem Menschen – und durch diese Erfahrung auch imstande zu sein, sie weiterzugeben? Liebe ist, was „das Leben per se“ sich als Ziel des Daseins gesetzt hat. Liebe, wie ich sie verstehe, hat etwas mit völliger Durchdringung des Gegenübers zu tun – nochmals, egal wem oder was ich mich in Hingabe zuwende. Dann wird Liebe, wahre Liebe, zu einer Form von Energie, die – physikalischen Gesetzen folgend – nicht verlöschen kann. Sie kann sich ändern, abschwächen oder sich verstärken, aber niemals sich auflösen. Das ist mein höchstes Glück, dass ich dieses Gefühl auf so vielen Ebenen erleben durfte und darf.