„Es gibt keine objektive Perspektive“
Interview: Anne Mulleners, Regisseurin
Text: Nadine Mousa & Claudio Niggenkemper - 29.12.2022
Rubrik: Theater
KUMA sprach mit Regisseurin Anne Mulleners über schnelle Dialoge, theatrale Geschlechterrollen und unausweichliche Gruppenzugehörigkeiten.
Gratulation zur Premiere! Wie bist du zu diesem Stück gekommen und wo liegen deine Berührungspunkte mit dem Stoff?
Es ist eine lustige Geschichte. Mir wurde das Stück hier in Graz von der Dramaturgie vorgelegt, allerdings hat mich das Stück vorab schon ein wenig „verfolgt“: Als ich London gelebt und gearbeitet habe, wurde es kurz nach meinem Wegzug uraufgeführt, daraufhin lief es in Amsterdam und auch dort habe ich die Vorstellungen knapp verpasst. Dann lief es in Wien und wieder habe ich nicht geschafft, es mir anzusehen. Es hat mich verfolgt.
Natürlich kenne ich die Textform bereits aus meiner Zeit in England und die schnellen Dialoge reizen mich immer sehr, aber auch die thematische Ausrichtung und die schiere Menge an Themen, die im Stück behandelt werden, haben mich gereizt. Ich war schon sehr beeindruckt, was Robert Icke da alles verhandelt und dass es auch gelingt. Auch wenn ich vorher dachte: "Wow, du nimmst wirklich jede Sache mit auf und baust sie ein" (lacht).
Das Stück ist recht handlungsarm, dafür sehr text- und diskurslastig. Im deutschsprachigen Raum ist diese Art des Theaters eher selten. Wie herausfordernd ist ein solches Stück für die Inszenierung und die Darsteller*innen?
Die größte Herausforderung für die Schauspieler*innen war vor allem zu Beginn das Tempo der Dialoge, das wiederum die eigentliche Qualität ausmacht. Das bedarf sehr viel Übung. Man ist komplett abhängig voneinander. Normalerweise hat man vielleicht einen Textteil oder einen Monolog und macht seine Sachen und dann kommt eine andere Person hinzu. Und unter all diesen Bedingungen in den eigentlichen Textfetzen seine Rolle zu bauen und wiederum in dieser Rolle eine gewisse Freiheit zu bekommen, ist interessant, aber auch sehr kompliziert. Aber ich glaube, am Ende hatten alle Beteiligten Spaß daran, sobald der Rhythmus gefunden wurde. Das schafft Vertrauen in das Spiel und das Miteinander.
Anne Muelleners bei den Proben, Credits: Sebastiaan Mulleners
Wird man bei der angesprochenen Themenvielfalt und Komplexität auch mit den eigenen individuellen -Ismen konfrontiert?
Absolut. Zu Beginn der Produktion haben wir zwei Expert*innen zu den Themenkomplexen Antisemitismus und Rassismus für die Basisschaffung eingeladen. Das hat für die Grundlagen geholfen. Andererseits ist mir während der Proben aufgefallen, dass nicht alle Menschen alles spielen können, beziehungsweise, dass das Spielen von anderen Lebensrealitäten für manche irritierend und schwierig sein kann. Das wurde beispielsweise dann sichtbar, wenn ein tiefer angesiedelter Status gespielt werden soll. Mir ist wichtig, keine Karikaturen darzustellen und dennoch ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Menschen sich anders verhalten, sobald sie bspw. ein anderes Geschlecht oder andere Hautfarbe haben. Durch die unübliche Zusammenstellung bestehend aus vielen Frauen und BPoC gab es einen erkennbaren shift in der Grundeinstellung. Ich hoffe, dass die Diskussionen innerhalb unserer Gruppe auch durch das Stück sichtbar werden und zum weiterführenden Nachdenken anregen: Es gibt unterschiedliche Meinungen und keine eindeutige.
Das Bühnenbild ist sehr eindrucksvoll, erinnert einerseits an die erhabene Ästhetik griechischer Säulen, andererseits fragmentiert es den Blick. Was ist die Idee dahinter?
Der Satz am Stückende: „Wir sollten Krankenhäuser so schön bauen wie Kirchen“ hat mich fasziniert. Man kennt Krankenhäuser und man kennt Kirchen - das sind zwei Räumlichkeiten, die man nie miteinander verbinden würde. Im Bühnenbild haben die Bühnenbildnerin Vibeke Andersen und ich die Größe von Kirchen nachempfunden, was ein gewisses Gefühl von Macht mit sich bringt.
"Die Ärztin" am Schauspielhaus Graz, Credits: Johanna Lamprecht
In der Inszenierung wird versucht, das Gegenüber mit der Kamera „einzufangen“. Steckt da u.a. die Idee dahinter, dass ein Mensch zweifach, nämlich immer auch als von außen gesehene Figur existiert?
Am Anfang spielt das Stück viel mit den Fragen: "Wer bin ich?" und "Wie werde ich wahrgenommen?". Hierbei ist es sehr interessant Kritiken zu lesen und zu merken, dass Leute eine Bewertung über eine Rolle äußern, dabei jedoch ganz oft vergessen, dass die Rolle durch die Person geprägt ist, die sie spielt. Und die Frage ist, ob sie immer noch dasselbe sagen würden, wenn die Rolle von einer anderen Person gespielt werden würde. Ich glaube, das ist das Spannende an dem ganzen Stück: Die persönliche Meinung oder die individuelle Position in der Welt beeinflusst maßgeblich, wie man das Stück sieht. Im Austausch mit Menschen während des Probenprozesses wurde deutlich: Es gibt keine objektive Perspektive, weil wir uns alle anders identifizieren. Bei der Kameraperspektive haben wir am meisten über die Perspektive der Medien gesprochen und darüber, wie Medien zweifellos ein nicht objektives Framework bilden und in gewisser Weise den Blickwinkel eines Menschen darstellen. Zugleich haben wir uns auch mit dem Blickwinkel einer Person auf eine andere Person beschäftigt. Wie filmt man eine Person, die man lieb hat? Und wie framed/filmt man eine Person, der man feindlich gegenübersteht bzw. wenn man diese andere Person als Bedrohung sieht?
In der Stück-Einführung wurde erwähnt, dass innerhalb des Testpublikums sehr unterschiedliche Identifikationspersonen aus der Geschichte hervorgehoben wurden. Das ist mitunter etwas sehr Ungewöhnliches. Welche Figur hat für dich bzw. das Ensemble am meisten Identifikationspotenzial?
Wir waren sehr daran interessiert, die Hauptfigur Ruth nicht allzu sympathisch zu machen. Man sieht ihr Privatleben, ihr Arbeitsleben, eigentlich alles. Natürlich ist man dadurch automatisch auf ihrer Seite und auch gewissermaßen berechtigt dazu. Ich war aber am meisten daran interessiert, es ebenso zu steuern, dass man kritisch gegenüber ihrem Verhalten eingestellt ist.
Ein zentraler Satz im Stück ist: „Wir dürfen jetzt selbst entscheiden, wer wir sind.“ Die äußere Identität löst immer noch Irritation bei anderen Menschen aus, so auch die Gegenbesetzungen. Glaubst du, dass das klassische Bildungsbürger*innentum damit ein Problem hat?
Ich finde es interessant, dass teils die Rückmeldung kam: „Das mit der Gegenbesetzung hätte aber nicht sein müssen.“ Wer so denkt, dem würde ich gern sagen: Dann hast du dich nicht hinterfragt, in Bezug darauf, wie du Personen liest. Wenn Verhalten, dass wir mit gewissen Genderrollen verbinden, nicht erfüllt wird, führt das bestimmt zu Reibungspunkten im Publikum. Diese Irritationen nicht als Wirkung des Stücks zu sehen, sondern als schlechtes Spiel, ist eine Sichtweise, die mich überrascht.
"Die Ärztin" am Schauspielhaus Graz, Credits: Johanna Lamprecht
„If you don´t see race, you don’t see racism“ gilt als Leitspruch der Identitätspolitik – die Universalisten meinen hingegen, dass dadurch immer mehr spaltende Schubladen entstehen, anstatt Vorurteile abzubauen. Im Stück äußert sich Hauptfigur Ruth Wolff in diese Richtung. Das Personal der Klinik verwendet die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen als Machtinstrument, um Karriere-Ziele zu erreichen. Ist das eine reale Gefahr?
Im Buch "Elite Capture" von Olúfẹ́mi O. Táíwò wird in einer langen Theorie beschrieben, dass Identitätspolitik aus seiner Perspektive etwas grundlegend Gutes ist, jedoch nicht weit genug geht. Das große Problem ist, dass die Elite die Identitätspolitik nutzt, um die eigenen Zwecke zu bedienen. Zum Beispiel in der Politik, wenn ein schwarzer Mensch für einen Posten ernannt wird, ist es inhärent nicht schlecht, aber wenn diese Person aus der Position die Rechte und Interessen einer mehrheitlich weißen Elite vertritt und stärkt, dann kommen wir nicht weiter. Das ist grob zusammengefasst der theoretische Ansatz und das sieht man auch im Stück. Das beste Beispiel ist, glaube ich, die Ministerin Jemima Flint, die Identitätspolitik einsetzt, um eigene Zwecke zu bedienen. Und das ist natürlich etwas, das Ruth nicht tut und sie sympathisch macht. Andererseits braucht es ja, und das sagt O. Táíwò auch, erst einmal Identitätspolitik zur Sichtbarmachung von Ungleichbehandlungen.
Der kollektive Charakter und die Selbstzuschreibung gelebter Identitätspolitik werden nicht nur von marginalisierten und diskriminierten Gruppen/Personen von Gesellschaften verwendet. Auch das rechts-konservative Spektrum, Fundamentalist*innen und Liberale machen sich diesen politischen Begriff zu Nutzen und dichten ihn um. Inwieweit war es relevant für das Stück, diese Gefahr mit aufzuzeigen?
Den Abschnitt haben wir aktiv hinzugefügt, weil wir noch Luft nach oben gesehen haben. Und auch den Begriff „Woke" wollten wir weiter ausführen, damit es nicht so zu einem typischen buzzword wird und alle mit den Augen rollen. Es war mir ein großes Anliegen zu kontextualisieren, wie sich Jemima Flint oder auch Tom Hartmann verhalten und dass das natürlich inhärent problematisch ist. Mehr Diversität in einer Organisation zu haben, ist eine gute Sache. Wenn Menschen jedoch nur gewählt werden, um die Anliegen der Person zu tragen, die sie ernennt, dann sind wir bei einer Art Vetternwirtschaft. Und ich glaube auch, dass Ruths Positionierung, prinzipientreu wie sie ist, teilweise gut ist, am Ende jedoch auch nicht gänzlich überzeugt, da sie nicht in der Lage ist, sich für das eigene Verhalten zu entschuldigen.
Credits: Johanna Lamprecht
Stichwort: Wokeness. Im Publikum war eine in Teilen genervte Reaktion wahrzunehmen. Habt ihr innerhalb des Ensembles hinsichtlich dieser Thematik einen Konsens finden können und möchte das Stück einen Konsens vorschlagen? Genauer: Ist das alles wichtig, um für soziale Gerechtigkeit einzustehen oder ist es am Ende doch nur die vielzitierte moralische Besserwisserei? Wie verläuft da eine Grenzziehung?
Das Theater befindet sich natürlich in einer gewissen Bubble, das muss man sich vorab erstmal eingestehen. „Besserwisserei“ ist ein interessanter Punkt. Ich glaube, das, was das Stück sehr gut macht, ist das Öffnen von Diskussion ohne Antworten zu geben. Und ich glaube, dass das dann keine Besserwisserei ist. Für eine wirkliche Besserwisserei hätte es die vielen Perspektiven nicht gebraucht, es wäre gezielter und weniger breit gefächert. Die Basis in unserem Team war, dass es grundsätzlich ein offenes Thema mit vielen Meinungen ist, dabei jedoch der Betroffenenperspektive eine entscheidende Rolle zukommt.
Credits: Johanna Lamprecht
Der sarkastische Witz des Textes macht selbst vor Antisemitismus und Nationalsozialismus keinen Halt. Beim Zusehen könnte die Frage aufkommen: „Worüber darf man (noch) lachen?“ Du hast selbst in England gelebt und gearbeitet - kann man dort eher solche Witze machen oder entsteht diese Schärfe durch die Übersetzung ins Deutsche?
Der Text ist in England geschrieben, dort ist Sarkasmus immer anwesend. Über viele Dinge wird nicht gesprochen, sie werden in Mikroaggressionen verhandelt – das ist etwas typisch Englisches. Humor ist nicht komplett übersetzbar, er hängt vom Kontext ab. In England würde das Stück bestimmt anders wirken. Die Brit*innen sind gewohnt, dass Aggressionen ausgespielt werden, in Österreich gibt es das eher selten. Aber ich glaube: Die Schärfe können wir uns leisten.
Gruppe versus Individualität: Steht die Zugehörigkeit einer Gruppe über dem Individuum?
Das bleibt offen. Ich glaube, was schon gezeigt wird ist, dass Ruth sich diesen Diskussionen entziehen möchte, aber nicht kann, weil sie zu einer Gruppe gehört – ob sie will oder nicht. Dagegen steht die Rolle von Sami und ihre Beziehung mit Ruth. Sie sagt, Sami könne alles, müsse sich nicht eingrenzen lassen. Das zeigt die Pro- und Contra-Seiten von Gruppenzugehörigkeit. Teilweise kann man wählen und das ist gut, aber teilweise kann man nicht wählen, weil man abhängig vom Kontext ist und den Leuten im Kontext, die dich bewerten. Womit wir wieder bei der Gegenbesetzung wären – man kann nicht wählen, wer man ist, weil der Kontext bis zu einem gewissen Punkt determiniert, wer man ist. Nicht nur man selbst.
Sigrun Karre, Nadine Mousa und Claudio Niggenkemper haben Anne Mulleners im Büro von Intendantin Iris Laufenberg im Schauspielhaus Graz zum Gespräch getroffen.
ANNE MULLENERS wurde 1994 in Amsterdam (Niederlande) geboren. Sie absolvierte sowohl ihren Bachelor (BA Drama & English Literature, University of Greenwich) als auch ihren Master (MA Theatre Criticism and Dramaturgy, Royal Central School of Speech and Drama) in Großbritannien und arbeitete danach als Regisseurin, Inspizientin, Dramaturgin und Theaterkritikerin an zahlreichen Produktionen. Vor allem arbeitete sie mit Künstler*innen wie Roy Alexander Weise, Yolanda Mercy, Tristan Fynn Aiduenu und Jade Lewis sowie mit Institutionen/Theatern wie der British American Drama Academy, Ovalhouse, Camden People's Theatre und dem New Diorama zusammen. Am Schauspielhaus Graz inszenierte sie in der Saison 2020/2021 die Deutschsprachige Erstaufführung von „Zitronen Zitronen Zitronen“ (Sam Steiner) und erarbeitete in Zusammenarbeit mit dem Filmemacher Thomas Achitz auch eine Theater-Stream-Version des Textes. In HAUS ZWEI inszenierte sie in der Spielzeit 2021/2022 die Österreichische Erstaufführung von „Die Laborantin“ (Ella Road). Seit 2021 erarbeitet sie mit der Schriftstellerin Hannah K Bründl zeitgenössische Arbeiten an der Schnittstelle zwischen Poesie und Theater: Im Sommer 2022 produzierten und spielten sie eine Lesung von Hannah Bründls „ZWILLING ECHO KINGKONG LOOP. ein theaterpoem“ beim Kultursommer Wien und im LOT, Wien. Zurzeit inszeniert sie in Ingolstadt „Königin Lear“ von Tom Lanoye. Derzeit lebt sie in Graz.
Nadine Mousa & Claudio Niggenkemper/ Credits: Lena Wurm
Nadine Mousa absolviert derzeit ihr Masterstudium der Germanistik in Graz. Sie ist Podcasterin und Autorin sowie Redakteurin des Grazer Straßenmagazins Megaphon.
Claudio Niggenkemper studiert Philosophie, Kultur- und Sozialanthropologie und Gender Studies in Graz und Münster. Daneben ist er als Redakteur und Vertriebsmitarbeiter beim Sozialprojekt Megaphon tätig und interessiert sich für die gesellschaftlichen Aspekte von Kunst und Kultur.