“Das Publikum ist Teil des Theaters!”
Interview: Andrea Vilter, Intendantin Schauspielhaus Graz
Text: Sigrun Karre - 17.08.2023
Rubrik: Theater
Die neue Intendantin des Schauspielhaus Graz sprach mit KUMA über das Erforschen virtueller Theaterformen, weibliche Perspektiven und institutionelle Reformprozesse.
Sie haben betont, wie wichtig der Ort, die Verortung für ihre künstlerische Arbeit und das Theater generell ist. Nun sind Sie erst kürzlich nach Graz gezogen, hatten Sie bereits etwas Zeit für eine erste „reale“ Spurensuche in der Stadt?
Das eine ist, dass man sich mit einer Stadt vorab befasst. Die konkrete Spurensuche mache ich auf einer theoretischen Ebene, da interessiert mich: „Welche Geschichte, welche Menschen, insbesondere auch welche Autoren wie z.B. Schwab, wo dann auch sofort die Verbindung zum steirischen Herbst entsteht, hat die Stadt?“ Graz hat über die Landesgrenzen hinweg eine spezielle Ausstrahlung, das ist das, was wir in unserer Arbeit als Spur aufnehmen.
Das andere ist, jetzt wo ich tatsächlich auch vor Ort, in der Stadt unterwegs bin, abends auch mal ausgehe und das Kulturleben und die Kulturtreibenden in der Stadt kennenlerne, wie zuletzt Andreja Hribernik vom Kunsthaus oder die Leute vom Theater im Bahnhof, ist die Lust schon sehr groß, hier ganz anzukommen.
Welche Vision haben Sie für das Schauspielhaus Graz und welche Veränderungen oder Schwerpunkte möchten Sie einführen?
Eine Vision ist jedenfalls, Dinge auch weiterzuführen. Das Schauspielhaus Graz ist in den letzten Jahrzehnten künstlerisch ein sehr ausstrahlungsstarkes Haus geworden, das in der deutschsprachigen Theaterszenen ein großes Renommee genießt. Mir ist es wichtig, eine Balance zu finden zwischen dem klaren Bekenntnis, ein Stadttheater zu sein, das Publikum vor Ort zu meinen und zugleich auf hohem Niveau zeitgenössisches Theater zu machen.
Eine Veränderung betrifft die Spielstätten, da wird aus dem vormaligen Haus zwei der Schauraum. Die Idee ist, dass man die Gleichwertigkeit zur Hauptbühne unbedingt beibehält, zugleich aber den Fokus auf den speziellen, intimeren Charakter dieser ehemaligen Probebühne setzt. Hier machen wir ein Angebot für ein Publikum, das die Nähe zum Ensemble sucht und an neuen Formen und Inhalten interessiert ist. Ein kleiner Barbereich und eine stärkere Öffnung des Raumes für kleinere, experimentellere Formate sollen den Ort zusätzlich zu einer Begegnungsstätte mit Werkstatt-Charakter machen, wo auch Kooperationen wie z.B. die Shared Reading-Reihe mit Edith Draxls Drama Forum stattfinden.
Raum drei wird zur Konsole, die dem digitalen Forschen gewidmet ist, da wird für zwei Spielzeiten das großartige Künstler*innen-Duo F Wiesel als Artists in Residence, mit uns und dem Ensemble etwas entwickeln.
Wenn man Theater klassisch als Versammlungs-Kunstform betrachtet, könnte man befürchten, virtuelle Realität, Digitalisierung etc. schaffen das Theater ab. Sie geben mit der Konsole virtuellen Theaterformen eine eigene Spielestätte, im Frühjahr wird es mit Digithalia ein Festival für virtuelle Theaterformen geben. Was könnten Möglichkeiten und Grenzen virtueller Theaterformen sein, oder müssen diese überhaupt erst ausgelotet werden?
Ja, es geht tatsächlich ums Erforschen und Ausprobieren dieser neuen Formate, die sich in den letzten Jahren pandemiebedingt begonnen haben, zu entwickeln. Mir geht es gar nicht so sehr darum, dass man Produktionen oder Ergebnisse zeigt. Uns interessiert das Prozesshafte. „Was macht dieses Medium gesellschaftlich mit uns, aber auch in und mit der Kunst?“ Solchen Fragen möchten wir nachgehen. Das Charakteristische an der Kunstform Theater ist ja, dass sie Entwicklung, sei sie nun technischer, gesellschaftlicher oder anderer Natur, sofort aufnimmt und sich dadurch ständig selbst transformiert und in Bewegung bleibt. Für das Publikum können der partizipative Charakter und der niederschwellige Zugang digitaler Theaterformen interessant sein.
Stichwort Niederschwelligkeit: Für manche Menschen ist die Hemmschwelle, einen „Kulturtempel“ wie das Schauspielhaus zu betreten, immer noch groß. Wie kann Theater – womöglich auch räumlich – auf die Menschen zugehen?
Das ist tatsächlich etwas, worüber wir viel nachdenken. Für die erste Spielzeit fand ich es wichtig, dass wir erst einmal im Haus ankommen, es noch stärker öffnen können, über die Salon-Formate, über die Konsole. Wir wollen z.B. das Schauspielhaus-Cafe, die zukünftige Hausbar, wieder mehr integrieren als Ort der Begegnung. Das ist schon alles programmatisch gemeint. Wir gehen auch in die Schulen, in die Universitäten, im ersten Schritt über Dialog und Austausch. Es geht aber auch um einen verantwortungsvollen Umgang mit den Ressourcen, man darf keine Menschen verheizen. Man muss sehr genau hinsehen, was Sinn macht und möglich ist.
Die Steiermark und Graz verfügen über ein verhältnismäßig reges Kulturleben. Insbesondere die freie Theaterszene ist quasi ein „immaterielles“ steirisches Markenzeichen geworden, Festivals wie La Strada haben überregionale Strahlkraft. Wie werden oder möchten Sie mit der Szene vor Ort interagieren?
Da gibt es keine konkrete Strategie, wir gehen aber laufend in Gespräche, erste Kooperationen sind die Koproduktionen mit der Oper und dem steirischen herbst. Ich möchte da jetzt ungern Namen nennen, aber es gibt bereits Gesprächsanbahnungen, wir sind neugierig!
Sie sagen, Sie möchten den Kanon der Theaterliteratur nicht verwerfen, sondern erweitern, etwa mit der Uraufführung „Von einem Frauenzimmer“ von Christiane Karoline Schlegel aus 1778. Wie sind Sie auf diesen 245 Jahre alten Text gestoßen? Worin liegt die Qualität des Textes?
Uns interessiert die Suche nach anderen Perspektiven und wir haben bei der Recherche diesen Text für uns entdeckt. Die Sicht einer Autorin des 18. Jahrhunderts auf einen Femizid ist einfach relevant und spannend. Mit Regisseurin Anne Lenk, die Spezialistin für Klassiker-Erkundungen ist, habe ich im Vorfeld viel diskutiert. Irgendwann habe ich dann gemeint: „Sag mal, das ist ja eigentlich eine Uraufführung!“, wir hatten das erst gar nicht bewusst am Schirm. Im Theaterbereich kommt das Thema der vergessenen Autorinnen zwar mehr und mehr ins Bewusstsein, aber es werden eher Projekte über sie, als tatsächlich Werke von ihnen auf die Bühne gebracht. Die bildende Kunst ist da schon ein Stück weiter.
Könnte das auch daran liegen, dass es eine größere Risikobereitschaft braucht, um klassische Autorinnen uraufzuführen?
Ja, so ist es. Worum es bei zeitgenössischer Dramatik geht, etwas Unerprobtes zu entwickeln, das machen wir in dem Fall jetzt auch. Man ist dem Text gegenüber kritischer und hinterfragender. Bei Lessing frage ich nicht fünfmal nach, ob das jetzt wirklich ein toller Satz oder eine gute Szene ist. Das ist eben genau der Witz dabei: In dem Moment, wo ein Text kanonisiert ist, wird er nicht mehr hinterfragt. Ich finde, das sollte man eigentlich bei allen Klassikern machen.
Mit Suzie Millers „Prima Facie“ bringen Sie einen der begehrtesten zeitgenössischen Theatertexte in der kommenden Saison auf die Schauspielhaus-Bühne. Einmal mehr eine weibliche Perspektive, #Metoo … Welche Themen interessieren Sie vielleicht bereits in Hinblick auf die weiteren Spielsaisonen?
Weibliche Perspektiven bleiben sicherlich auch über die erste Saison hinaus ein Schwerpunkt. Wenn man den Spielplan ansieht, ist das offensichtlich, es gibt es aber auch sehr viele andere Themen, Jelineks ‚Sonne. Luft‘. z.B. ist ja, ohne dass es explizit ausgesprochen wird, was ich sehr schön finde, ein Stück, das sich mit der Klimathematik beschäftigt. Bei Werner Schwab z.B. sind es weniger seine Themen, als vielmehr seine Sprache und er als Figur in dieser Stadt, was ich spannend gefunden habe. Die Themen und Stoffe entstehen und verdichten sich im Austausch untereinander, ich komme nicht und sage: „Das sind meine drei Themen“, sondern wir stehen im ständigen Dialog über das, was uns beschäftigt, so entwickeln sich die Dinge.
Kultur-Institutionen sind im Umbruch, Strukturen und Hierarchien wanken, manche halten gar das Intendant*innen-Model für überholt. Wie muss oder sollte sich das Theater transformieren, haben Sie da eine klare Vision?
Ich finde es auf jeden Fall wichtig, dass das Theater diese Diskussion führt und Reformprozesse durchläuft. Das Theater bildet die Gesellschaft ab und hat aus diesem Grund wohl eine Vorbildfunktion und es ist gut, wenn man sich auf der Höhe des aktuellen Diskurses befindet. Wichtig dabei erscheint mir, dass dieser Prozess tatsächlich Reformcharakter hat und nicht in Form eines Umsturzes von außen herbeigeführt wird, zumal es schwierig ist, von außen die besonderen Prozesse im Theater zu verstehen.
Eine Leitung als Team wird aktuell mit mehr oder weniger Erfolg an einigen Theatern ausprobiert. Am Ende sind es die Menschen, von denen das Gelingen abhängt, die demokratischste Struktur funktioniert nur mit den „richtigen“ Menschen. Sie merken schon, es ist komplex und nicht so eindeutig. Ich befasse mich intensiv mit Prozessen, mit guter zeitgemäßer Führungskultur, wo sich alle gemeint fühlen und auch selbst in die Verantwortung kommen. Auf der einen Seite Kunst mit hohen Idealen zu machen und andererseits gibt es einen Apparat, der das Lügen straft und der vermeintlich nötig ist, um Kunst zu produzieren, ist ein Widerspruch und daran glaube ich überhaupt nicht.
Prozesse sind aber natürlich auch anstrengend, nicht nur für die Leitung, sondern für alle Mitarbeitenden, die gefordert sind, in die Verantwortung zu gehen.
Im Programmheft ist das Ensemble in der Mitarbeiter*innen-Auflistung als allererstes genannt, vermutlich kein Zufall. Welche Bedeutung messen Sie der Zusammenarbeit mit dem Ensemble bei?
Lustig, dass Ihnen das auffällt. Nein, nichts im Programmheft ist Zufall. Die klassische Reihenfolge ist, dass zuerst die Leitung kommt, das wollte ich tatsächlich anders haben und mich nicht in den Vordergrund stellen. Für mich ist das Ensemble der Kern, das sind die Künstler*innen am Haus, die auf der Bühne und vor Ort sind. Gleichzeitig möchten wir weitere interessante Künstler*innen nach Graz holen, aber nicht den Weg gehe sozusagen „einzukaufen", was am Markt gerade am besten ankommt. Chef-Dramaturgin Anna-Sophia Güther und ich arbeiten ausschließlich mit Menschen, zu denen es Arbeitsbeziehungen gibt. Die Balance zwischen der künstlerischen Freiheit, die wir allen geben, und dem Austausch darüber, wohin wir wollen, was wir der Stadt erzählen wollen, die muss immer wieder gesucht werden. Das ist mein und unser Ansatz.
Gibt es noch etwas zu sagen, was Ihnen wichtig ist?
Was mich erstaunt und wahnsinnig freut, ist die bereits wahrnehmbare Offenheit und Neugier des Publikums! Aus Berlin kommend, wo es die Diskussionen gab, ob sich das Theater immer nur noch selbst spiegelt und in seiner Blase verharrt, haben wir uns selbst auch immer wieder gefragt, ob wir das Publikum tatsächlich noch im Blick haben oder nur das machen, was uns selbst interessiert. Diesen vorhersehbaren Publikumsrenner, wo man weiß, das kommt an, den haben wir nicht gesucht. Unser Programm ist schon kompromisslos. Das Publikum als Teil des Theaters und nicht als passiven Konsumenten zu sehen, ist mir ein großes Anliegen! Es ist toll, dass es dafür vom Publikum schon viel positive Resonanz gibt, und ich freue mich jetzt sehr auf das weitere Kennenlernen, zuerst beim Warm-Up Fest und dann bei unseren Aufführungen.
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