Mit Kugelschreiber und Ölkreiden in die Untiefen der Gesellschaft

Hermann Nitsch. Zeichnungen, Bruseum Graz

Text: KUMA - 23.10.2024

Rubrik: Kunst
Hermann Nitsch. Zeichnungen, Bruseum Graz

Viele Zeichnungen sind direkt mit Kugelschreiber oder Permanentmarker angefertigt. Das verdeutliche, so Kurator Roman Grabner, das große zeichnerische Talent von Hermann Nitsch. Foto: Universalmuseum Joanneum/J.J. Kucek © Bildrecht Wien, 2024

Die Ausstellung „Hermann Nitsch. Zeichnungen" im Bruseum in der Neuen Galerie zeigt einen umfassenden Überblick über das zeichnerische Werk des Jahrhundertkünstlers und Innovators Hermann Nitsch.

Nur wenige Künstler:innen haben die Grenzen der Freiheit so beständig ausgelotet und wurden dafür so oft mit Strafanzeigen, Protesten und Drohungen bedrängt und verfolgt wie Hermann Nitsch. Die Rezeption seiner Kunst ist eine Geschichte der Missverständnisse und der Skandalisierung. Allerdings ist diese Reaktion der medialen Öffentlichkeit auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Künstler sich zum Ziel gesetzt hat, zu den Abgründen und Untiefen der Gesellschaft vorzudringen. Das gesamte Werk von Hermann Nitsch versteht sich als metaphorisches Herabsteigen in die Tiefen – in die Tiefen der menschlichen Psyche, aber auch in die räumlichen Tiefen, wie Keller, in denen viele seiner frühen Aktionen stattgefunden haben. Der Untergrund wird zum Prinzip.
Ausstellungsansicht „Hermann Nitsch. Zeichnungen“

Ausstellungsansicht „Hermann Nitsch. Zeichnungen“/ (Credit: Universalmuseum Joanneum/J.J. Kucek © Bildrecht Wien, 2024)

Leid, Kreuzigung, Tod und Auferstehung

Hermann Nitsch gelangt, wie auch seine Mitstreiter im Wiener Aktionismus, nach figürlichen Anfängen zur Abstraktion und vollzieht einen Prozess der Erweiterung und Überwindung des Tafelbildes. Noch bevor Nitsch 1957 am Konzept seines Orgien-Mysterien-Theaters arbeitet, setzt er sich zeichnerisch mit den Themen Leid, Kreuzigung, Tod und Auferstehung auseinander. Zu seinen frühesten Arbeiten zählen Adaptionen alter Meister wie Rembrandts Kreuzigung. Die sogenannten „Kritzelzeichnungen“, die von 1959 bis 1961 entstehen, loten den ekstatischen Gestus der frei bewegten Hand aus.

Ausstellungsansicht „Hermann Nitsch. Zeichnungen“

Kurator Roman Grabner vor der Collage "Golden Love" von Hermann Nitsch (1967), Foto: Universalmuseum Joanneum/J.J. Kucek © Bildrecht Wien, 2024

Emanzipation der Zeichnung

Üblicherweise wird Hermann Nitsch mit seinen Schüttbildern in Verbindung gebracht. In der erst zweiten Ausstellung zu seinen Zeichnungen wird aber ersichtlich, dass die Zeichnung viel mehr war als nur Skizze und Konzept für die Umsetzung von größeren Aktionen wie des Orgien-Mysterien-Theaters. Sie spielt in seinem gesamten Werk durchgehend eine zentrale Rolle. In der Ausstellung taucht die Zeichnung auch in allen möglichen Formen und Farben auf. In schlichten Kritzelbildern (1959 bis 1961), die in einer Art Wolke gleich zu Beginn assembliert werden, will der Künstler an Kinderzeichnungen anknüpfen. Mit der Ausweitung der Aktionen und der Expansion des Orgien-Mysterien-Theaters entwickeln sich auch die Zeichnungen und nehmen an Größe und Umfang zu. Architekturbilder, wie er sie nennt, stellen sehr genaue Pläne für den Handlungsablauf und die Positionierung von Utensilien wie Fleisch, Fisch, Bandagen, Blut, Blumen usw. vor. Mit der Zeit nehmen die detailgetreu und meist mit Kugelschreiber gezeichneten Pläne organische Formen an, sehen irgendwann aus wie menschliche Umrisse oder eben Organe. Mit der immer umfangreicheren Ausarbeitung seines breit angelegten Gedankengebäudes des Orgien-Mysterien-Theaters verschmilzt Nitsch das „Naturereignis Mensch“ zeichnerisch mit wuchernden Architekturen und adaptiert dabei nicht selten christliche Ikonografien. Die Haltungen der Figuren sind Vorbildern der Kunstgeschichte entlehnt, die Darstellungen selbst entstammen dem Anatomieunterricht der Kunstakademien. Eine Verdichtung ist in der Arbeit Die Eroberung Jerusalems (1972)  zu sehen. Die erste großformatige Zeichnung (183 x 296 cm) ist ein Entwurf für eine unterirdische Anlage im Ausmaß von 13 mal 18 Kilometern.

Ausstellungsansicht „Hermann Nitsch. Zeichnungen“/ (Credit: Universalmuseum Joanneum/J.J. Kucek © Bildrecht Wien, 2024)

Ausstellungsansicht „Hermann Nitsch. Zeichnungen“/ (Credit: Universalmuseum Joanneum/J.J. Kucek © Bildrecht Wien, 2024)

Prinzip Hoffnung und Farben

Als Nitsch gegen Ende seines Lebens die gesamte Palette der Farben für seine Schüttbilder in Anspruch nimmt, entstehen parallel dazu auch farbenprächtige Zeichnungen mit dichten Schraffuren. Es sind die Farben der Auferstehung, die sein Spätwerk prägen und sein Œuvre mit dem Prinzip Hoffnung ausklingen lassen.

Die Ausstellung im Bruseum ist sehr pointiert gestaltet und bietet einen roten Faden von den ersten Kreuzigungsszenen des Künstlers bis zu seinen ganz späten, quietschbunten Ölkreidearbeiten. Hermann Nitsch war ein Monolith der Kunstgeschichte des 21. Jahrhunderts, weshalb die Schau kunstgeschichtlich hochinteressant ist. Jeden Sonntag und Feiertag um 11 Uhr (engl.) und um 14 Uhr (dt.) gibt es kostenlose Rundgänge durch die Ausstellungen der Neuen Galerie. Eine Anmeldung ist nicht notwendig.

Bruseum, Neue Galerie Graz Joanneumsviertel, 8010 Graz Mo. bis So., 10h bis 18h