Non-Bullshit-Berufe im Fokus

Filmkritik: Corpus Homini (2024), Boxa Film

Text: Lydia Bißmann - 20.11.2024

Rubrik: Film und Kino
Filmkritik: Corpus Homini (2024), Boxa Film

Der Wiener Bestattungsunternehmer Harald Hanser. (Credit: Boxa Film)

Anatol Bogendorfer porträtierte im Film Corpus Homini (2024) auf sehr sensible und innige Art und Weise vier Berufe, die keine KI oder kein Roboter ersetzen können. Verena Linder, Elisabeth Kogler, Julia von Steyr, Kateryna und Harald Hanser erlauben in dem Dokumentarfilm einen Blick in ihren Alltag als Hebamme, Hausärztin, Sexarbeiterin und Bestattungsunternehmerpaar.

Mit einer sattelfesten Bildsprache begleitet der Film 97 Minuten lang die Protagonist:innen von Vorarlberg, ins Salzkammergut, nach Steyr und Wien. Von der Machart erinnert Corpus Homini an “Für die Vielen” (2022) von Constantin Wulff, der dafür Jahre in der Arbeiterkammer Wien zugebracht hat. Ebenfalls sehr nahe am Direct Cinema angesiedelt, das komplett ohne Eingriffe der Filmemacher auskommen möchte, erzählt Corpus Homini von Berufen, in denen es keine Entfremdung geben kann, die auf menschlicher Interaktion basieren und trotzdem sehr lange zu den “unehrenhaften Berufen” gezählt wurden.
Filmkritik: Corpus Homini (2024), Boxa Film

Elisabeth Kogler ist Hausärztin in Vorarlberg. (Credit: Boxa Film)

Der Körper als Arbeitsplatz

Hebamme Verena Linder bezeichnet eine Geburt als Naturereignis, aber keine Naturkatastrophe. Die erste Szene zeigt gleich eine Geburt, die bekanntlich auch länger dauern kann. Verena Linder beruhigt ihre Patientin, ermuntert sie zur Erholung und strahlt aus jeder Pore ihres Körpers Sicherheit, Klarheit und Erdung aus. Eigenschaften, kostbar wie Gold, wenn man in den Geburtswehen liegt und einen Oberarm zum Anklammern braucht.

Viel ätherischer und zarter, aber nicht weniger selbstsicher erscheint Julia von Steyr, eine Sexarbeiterin und Aktivistin, die sich auf Sexualbegleitung von älteren, kranken oder sonst beeinträchtigten Menschen spezialisiert hat. Sie beherrscht Hebetechniken, mit denen sie relativ schnell einen Menschen aus einem Rollstuhl in ein Bett bugsieren kann, und weiß über alle möglichen Indikationen gut Bescheid. Die Kamera filmt sie beim Duschen, Schminken und beim Erstgespräch mit ihren Klienten, wo etwaige Bedürfnisse und Vorlieben abgeklärt werden, und schaltet auch beim Geschlechtsverkehr nicht ab. Durch sorgfältig gewählte Bildausschnitte, Perspektiven und ein gutes Timing bekommen die sehr intimen Szenen fast sakralen Charakter. Man möchte eigentlich wegschauen, weil es so privat ist, tut es dann zum Glück aber doch nicht.

Hausärztin Elisabeth Kogler legt als “Ärztin für alles” einen konsequent stoischen Lakonismus an den Tag. Wenn sie etwas sagt, hat das immer einen Zweck, beruhigt, lenkt ab oder erläutert. Sie bringt eine Dame wieder zum Hören, deren Hörgang verstopft war, entfernt ein “Problem” hinter dem linken Ohr, begutachtet einen Nasenbeinbruch, der durch eine Schlägerei verursacht wurde, oder stellt ein dringend benötigtes Rezept für die Pille aus. Der Zyklus kennt schließlich keinen Lockdown.

Mit dem angewandten Tod beschäftigt sich das Ehepaar Kateryna und Harald Hanser in ihrem Wiener Bestattungsunternehmen. Hier werden Särge ausgekleidet, Verstorbene gewaschen, bekleidet und geschminkt und Begräbnisse geplant. Manchmal scheint es, als ob Harald Hanser die Leiche wie einen Tisch abwischen würde, aber die Zartheit der Geste, mit der er Make-up auf die Wangen einer Verstorbenen tupft, zeigt den Respekt, den er vor Menschen hat, auch wenn sie als leblose Körper seinen Arbeitsalltag bevölkern.

Filmkritik: Corpus Homini (2024), Boxa Film

Verena Lindner ist Hebamme im Salzkammergut. (Credit: Boxa Film)

Nähe durch Distanz

Corpus Homini ist der zweite Dokumentarfilm von Anatol Bogendorfer. Vier Jahre dauerten die Dreharbeiten, bevor das Resultat auf der Diagonale 2024 in Graz präsentiert werden konnte. Die Idee zu einem Film über Non-Bullshit-Berufe kam dem Regisseur und Musiker in einem Hotel in der Steiermark. Das ehemalige Baderhaus befindet sich außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern. Bader waren damals so etwas wie Allgemeinärzte oder Pfuscher. Wie Hebammen, Prostituierte und Totengräber durften sie nicht innerhalb einer Stadt wohnen und mussten sich außerhalb niederlassen. Der Film liefert Bilder, die tief an Emotionen rühren, ohne dabei rührig zu sein. Durch das Weglassen von Erklärungen, individuellen Biografien oder Talking Heads rückt die beherzte Professionalität der Protagonist:innen noch mehr in den Vordergrund und bekommt die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Beim Betrachten fragt man sich ernsthaft, warum man sich eigentlich den ganzen Tag so zugemüllt mit erregenden Nachrichten, wenn doch das echte Leben direkt vor der eigenen Haustür so viel mehr zu bieten hat, warum egoistische Clowns und Hetzer so ungleich viel mehr Aufmerksamkeit bekommen als diese vier plus eins Held:innen des Alltags. Ein absoluter Pflichtfilm für alle, dessen Botschaft – wie wichtig Arbeit als eine sinnliche, sinnvolle Tätigkeit ist – in unvergleichlich schöne, zärtliche und intime Bilder gegossen wurde.

Termine und Streamingangebote:

Corpus Homini Termine in ganz Östereich

VOD-Videoclub (Der Film ist ab 29. November auf der Plattform zu sehen)

Filmkritik: Corpus Homini (2024), Boxa Film

Julia von Steyr, Sexarbeiterin mit Benefits und Aktivistin. (Credit: Boxa Film)