Filmgeschichte in Schwarz-Weiß

Buchkritik: Lichtspiel, Daniel Kehlmann

Text: Lydia Bißmann - 02.11.2023

Rubrik: Literatur

Daniel Kehlmann ist einer der erfolgreichsten Autoren im deutschen Sprachraum (Credit: Heike Steinweg)

KUMA-Buchkritik (Lydia Bißmann)

Lichtspiel, der neue Roman von Daniel Kehlmann, hat eigentlich alle Voraussetzungen, die ein sensationelles Buch braucht. Der Erfolgsautor beherrscht sein Handwerk, hier sind alle Buchstaben dort, wo sie hingehören – 470 Seiten blättern sich quasi von selbst um. Ein spannender Plot (linker Regisseur geht zurück nach Nazideutschland) wird von schillernden Figuren wie Louise Brooks, Greta Garbo oder Marlene Dietrich, Dämonen wie Joseph Goebbels oder Leni Riefenstahl und sogar Kobolden wie Heinz Rühmann flankiert. Sie sind nur Teil einer ganzen Menagerie an historischen Persönlichkeiten, die Kehlmann in seinem neuesten Werk auftanzen lässt. Allerdings ist es ihm nicht gelungen, aus diesen exzellenten Zutaten eine Geschichte zu schreiben, die man streckenweise nicht schon beim Umblättern vergisst. Figuren im Reservemodus Der Autor wechselt die Perspektiven in fast jedem Kapitel, erzählt die Geschichte des in Österreich festsitzenden Regisseurs aus der Sicht seines Sohnes Jakob, seines Kameraassistenten Franz Wilzek, seiner Frau Trude oder des Nazi-PR-Beauftragten Kuno Köhlers. Das soll für Abwechslung und Esprit sorgen, aber irgendwie scheint die Perspektive trotz viel Personal auf der Stelle zu treten. Dass G. W. Papst nicht weiß, was er tun soll und ein Getriebener ist, ist ja Teil der Story und passt. Nur sind auch alle anderen von einer lähmenden Commitment-Scheue ergriffen , die in jedem Fall bei den Nazifiguren unglaubwürdig wirkt. Die Charaktere verhalten sich so, als ob sie bereits wissen würden, wohin die Reise geht. “Gut", „neutral" oder "ziemlich böse" bewegen sich mit einer seltsamen Lethargie durch die Seiten und tun pflichtbewusst das, was man sich von KZ-Aufsehern, Migrant*innen oder sexy Schauspieler*innen erwartet. Nur eben im Sparprogramm. Am besten steht dieser sedierte Zugang noch der ziemlich smarten Ehefrau Gertrude Pabst, die sich vor Angst und Langeweile in den Alkohol flüchtet. Gegen diese allgemeine Lähmung der Figuren helfen auch psychedelisch anmutende Szenen, wie ein Besuch im Goebbels Hauptquartier nichts, wo der restilluminierte Pabst auf einen trollhaften Propagandachef trifft, der sofort vor Bosheit ein Telefon zerstört und den Protagonisten unverblümt vor die Entscheidung stellt: "KZ oder Filme mit Endlosbudget". Die im Vorfeld sorgfältig aufgebaute Schlüsselszene verpufft hier leider in sinnlosem Getöse. Lichtblicke Trotzdem ist das Buch nicht langweilig und bietet eine Unmenge an fesselnden Abschnitten. Etwa jene, wo es um Filmtechnik und den Umgang des Regisseurs mit seinen Darsteller*innen geht. Georg Wilhelm Pabst hat das moderne Kino miterfunden und weiterentwickelt. Er gilt als Meister des Schnitts und hat die Filmgeschichte mit Werken wie „Die freudlose Gasse (1925)“, „Die Büchse der Pandora (1929)“ oder "Westfront 2018 (1930) sehr deutlich mitgeschrieben. Bei den Arbeiten zum nie vollendeten Film "Mollander (1944)", der dem Buch eine lose Rahmenhandlung gibt, schreibt er im Buch widersprüchliche Anweisungen auf kleine Zettelchen, die die Schauspieler*innen verwirren und zu Höchstleistungen anstacheln sollen. Einem affig agierenden Nebendarsteller schenkt der Regisseur, der nie "schreit", einen gemeinsamen Nachmittag mit Gesprächen und ein paar Umarmungen und am nächsten Tag sind unnötige Gesten und Übertreibung aus der Arbeit des Mimen verschwunden. Diese Szenen sind präzise, aber schlicht gebaut und erwecken die Akteure durch gezielte aber sparsame Handlung zum Leben. Verzweifelt komisch sind am Anfang des Buches Gespräche auf Hollywood-Partys mit amerikanischen Filmproduzenten, die gar nicht daran denken, zuzuhören und es daher egal ist, dass der verkopfte Deutsche kein Englisch kann. Am besten ist die Geschichte dort, wo sich Kehlmann ganz aus seiner schaumgebremsten historical correctness traut und zu erfinden beginnt. In den beiden vorletzten Kapiteln geht es um die finale Phase des Mollander-Drehs in Prag kurz vor Kriegsende, über die man nicht wirklich viel weiß. Jenseits von der historischen Misere, ist man beim Lesen gespannt, wie das Genie Papst "aus Stroh Gold spinnt". Er muss den stinklangweiligen und enorm nichtigen Roman "Die Sternengeige" von Alfred Karrasch verfilmen und macht es sich zum Auftrag, daraus ein Meisterwerk zu erschaffen. Hier unterzeichnet die Romanfigur G. W. Papst endgültig den Pakt mit dem Teufel und wird schuldig. Was schlecht für die Romanfigur ist, verleiht dem Roman zum Ende noch einmal echtes Gefühl, Drama, und einen Mix aus Abgrund und Begehren, was leider sonst auf sehr langen Strecken im Buch fehlt.

Klappentext

Daniel Kehlmanns Roman über einen Filmregisseur im Dritten Reich, über Kunst und Macht, Schönheit und Barbarei ist ein Triumph. Lichtspiel zeigt, was Literatur vermag: durch Erfindung die Wahrheit hervortreten zu lassen. Einer der Größten des Kinos, vielleicht der größte Regisseur seiner Epoche: Zur Machtergreifung dreht G. W. Pabst in Frankreich; vor den Gräueln des neuen Deutschlands flieht er nach Hollywood. Aber unter der blendenden Sonne Kaliforniens sieht der weltberühmte Regisseur mit einem Mal aus wie ein Zwerg. Nicht einmal Greta Garbo, die er unsterblich gemacht hat, kann ihm helfen. Und so findet Pabst sich, fast wie ohne eigenes Zutun, in seiner Heimat Österreich wieder, die nun Ostmark heißt. Die barbarische Natur des Regimes spürt die heimgekehrte Familie mit aller Deutlichkeit. Doch der Propagandaminister in Berlin will das Filmgenie haben, er kennt keinen Widerspruch, und er verspricht viel. Während Pabst noch glaubt, dass er dem Werben widerstehen, dass er sich keiner Diktatur als der der Kunst fügen wird, ist er schon den ersten Schritt in die rettungslose Verstrickung gegangen. Titel: Lichtspiel, Roman Autor: Daniel Kehlmann Verlag: Rowohlt Erscheinungstermin: 10.10.2023 480 Seiten ISBN: 978-3-498-00387-6

Credit: Rowohlt