Pazifismus mit den Tools des Krieges
ARTfaces: Total Refusal
Text: Lydia Bißmann - 19.09.2022
Rubrik: Kulturland Steiermark
Das pseudomarxistische Kollektiv „Total Refusal“ erobert den halböffentlichen Raum von populären, teuer programmierten Computerspielen, um sich dort dann gründlich danebenzubenehmen.
Eine Gruppe von jungen, fitten Menschen in wetterfester Freizeitkleidung fährt per Rad durch eine dystopische Stadt, die der sowjetischen Reißbrett-Stadt Workuta in Komi nachempfunden ist. Immer wieder wird die Gruppe von Zombies belästigt. Die Spielerinnen und Spieler, in deren Rollen die Mitglieder des Kollektivs Total Refusal geschlüpft sind, lassen sich davon aber nicht beirren und setzen ihre Reiseführung "Desaster Tourism" fort. Anhand der Straßenzüge, der Möbel, der Architektur erklären sie den Zusehern den Fall der Sowjetunion und den Aufstieg des Kapitalismus, der uns so gerne als Sieg der Freiheit verkauft wird. Der etwa einstündige Film "Desaster Tourism (2021)" war ein Beitrag für den russischen Pavillon bei der Architektur-Biennale in Venedig 2021. Spannend, enorm informativ und trotzdem flockig leicht bringt er vieles auf den Punkt, was nicht nur seit dem Angriffskrieg in der Ukraine Hochsaison hat: Kapitalismuskritik und Pazifismus.
Krieg, Kapitalismus und Klimakrise
Statt geschossen wird in den Spielen, in denen es eigentlich nur ums Abknallen geht, diskutiert, mit Wölfen gespielt, ein Picknick abgehalten, eine ausgiebige Stadtführung abgehalten („Operation Jane Walk", 2018), geblödelt oder sich mit Spiel-Statisten beschäftigt, die eigentlich nicht viel anderes zu tun haben, als einen Eimer auszuleeren oder einen Ballen Heu von links nach rechts zu schieben („Working Hardly", 2021). Total Refusal macht Ego-Shooter-Spiele zu Antikriegsfilmen, untersucht die Arbeitsbedingungen von Nicht-Spieler-Figuren (Non-player Characters, NPCs) ethnografisch oder stellt beängstigende Szenen mit weggeschwemmten Kühen und Hausrat im Fluss als Folgen des Klimawandels nach („Murpod", 2020). Bei der geplanten „Murpod"-Aufführung in der Grazer Augartenbucht wurde das Kollektiv von der Realität überrollt: Ein Hochwasser im Sommer 2021 machte den geplanten Termin der Eröffnung der Installation unmöglich.
„Working Hardly", 2021 beleuchtet die Arbeitsbedingungen von HIntergrundfiguren in Shooter-Spielen (Filmstill).
Gegen den Ernst im Spiel
Es ist die Hingabe und Hassliebe zu Videospielen, die das Kollektiv eint. Total Refusal sind die Videokünstlerin Susanna Flock, der Kulturanthropologe Robin Klengel, der Philosoph Michael Stumpf, der Medienwissenschaftler und bildende Künstler Leonhard Müllner, der Politikwissenschaftler Adrian Haim und der Filmemacher Jona Kleinlein. Gaming hat sie zusammengebracht, zu einer Medien-Guerilla vereint und zu ihrer Kunstform inspiriert. Eine Herangehensweise, die neu, mutig, sehr theoretisch, aber auch ziemlich witzig ist. Total Refusal schaffen einen konsequenten und gut nachvollziehbaren Spagat zwischen Popkultur und angewandter Denkarbeit.
"Kriegsspiele leben davon, dass sie sich zu ernst nehmen. Alle wissen, es ist nicht ernst, aber alle müssen den Ernst performen, der das Spiel zusammenhält. Diesen Ernst nehmen wir nicht ernst, den versuchen wir zu stören", so das Credo. In Mainstream-Spielen herrscht wenig Reflexion über das Politische des eigenen Materials. Total Refusal verwendet die Spiele so, dass sie zu einem künstlerischen Artefakt werden. Dabei wird in den Algorithmus der Spiele nichts eingegriffen. Es wird nicht umprogrammiert und nur ganz wenig moduliert. Die Performance entsteht rein durch das Anderssein, ein alternatives Spielverhalten und die Texte, die als neue Erzählungen über die abgefilmten Spielszenen gelegt werden.
Zombies und sowjetische Architekur im Film "Desaster Tourism".(2021). (Filmstill)
Von Gamern zu Filmemachern
Begonnen hat alles 2018 mit einer Filmperformance. Leonhard Müllner und Robin Klengel machten im Ego-Shooter-Spiel "Tom Clancy‘s: The Division" eine Führung durch die sorgfältig gerenderte Spielumgebung von Manhattan. Mehr zum Ausprobieren als aus ernster Ambition wurde eine 16-minütige Kurzversion davon namens "Operation Jane Walk" beim Festival des österreichischen Films, Diagonale, eingereicht. 2020 wurde der Kurzfilm "How to Disappear", der sich mit dem Tabuthema Desertieren beschäftigt, von der Diagonale-Jury zum besten Kurzdokumentarfilm gekürt und auch bei der Berlinale gezeigt. Seit 2018 wurden Arbeiten von Total Refusal mit bislang über 30 Preisen ausgezeichnet und auf mehr als 300 internationalen Film- und Videofestivals präsentiert, darunter die Ars Electronica Linz, die „Doc Fortnight" im MoMA, New York, oder das HEK (Haus der elektronischen Künste) Basel.
"Operation Jane Walk", 2018. (Filmstill)
Nährender Schoß
Das Kollektiv, das zahlreiche Associates und lose Mitstreiterinnen und Mitstreiter hat, ist während der Coronapandemie auf sechs Mitglieder angewachsen, da es so viele Aufträge gab. Filmbeiträge für den Pavillon der SteiermarkSchau 2021, die Ausstellung im Grazer Kunsthaus oder der Beitrag „Murpod" zum Kulturjahr Graz 2020 fielen in diese Zeit. "Das Land Steiermark und die Stadt Graz waren wie eine Art Schoß, der mit seiner Kulturförderpolitik Total Refusal ernährt und unterstützt hat", heißt es mit Augenzwinkern. Ein Atelierstipendium ermöglichte die Arbeit am "Kinderfilm (in Progress)". Fast alle Arbeiten von Total Refusal sind auf der Homepage des Kollektivs zu finden.
ARTfaces ist die Online-Künstler*innen-Porträt-Reihe des Landes Steiermark.