Offenbachs 'Opern-Baustelle' als Mega-Spektakel
Kritik: Hoffmanns Erzählungen, Oper Graz
Text: Martin Exner - 02.10.2023
Rubrik: Musik
Der neue Intendant der Grazer Oper, Ulrich Lenz, eröffnet seine erste Saison mit Offenbachs Künstler-Oper „Hoffmanns Erzählungen“, in Szene gesetzt von vier Regieteams – ein Mega-Aufwand, der sich spektakulär gelohnt hat!
„Hoffmanns Erzählungen“, Offenbachs letztes Werk, blieb von diesem unvollendet und gilt daher bis heute – trotz zahlreicher musikwissenschaftlicher Bemühungen – als Opern-Baustelle. Nicht allen Opernhäusern gelingt es, daraus einen soliden, nur wenigen, einen großen Opernabend zu extrahieren – die Grazer Oper gehört seit vergangenen Samstag zu letzteren. E.T.A. Hoffmann, der deutsche Universalkünstler, Dichter, Schriftsteller, Zeichner, Komponist, steht im Mittelpunkt des Werkes, an seiner Vielseitigkeit orientiert sich auch die Aufführung in der Grazer Oper: Vier Regisseure/Teams mit Konzepten, die unterschiedlicher kaum sein könnten, realisieren die 5 Akte.
Tobias Ribitzki übernimmt dabei die Rahmenakte 1 und 5, die als Prolog und Epilog die Klammer für die Ereignisse dazwischen bilden – in schlichten, aber eindrücklichen Bildern zeigt er das Ringen des Dichters nach Eingebung, das auch zum Schluss noch nicht beendet ist. Die Muse – hier in den Dichter verliebt – begleitet ihn durch den Abend und darf zum (guten, oder doch nicht?) Ende für die Apotheose sorgen. Anna Brull, als sich in den Studenten Nicklausse verwandelnde Muse, rückt die Figur dank ihrer wandlungsfähigen und ausdrucksstarken stimmlichen Fähigkeiten und ihres eindringlichen Spiels – zu Recht bejubelt – ins Zentrum der Aufführung.
Den zweiten Akt über die „Automatenfrau“ Olympia, in die sich der verblendete Hoffmann verliebt, um zu spät zu erkennen, dass seine Angebetete eine zerbrechliche Puppe ist, wird vom Künstlerkollektiv „1927“ in Szene gesetzt, das sich mit animierten Projektionen, mit denen Schauspieler:innen / Sänger:innen interagieren, einen Namen gemacht hat. Die opulenten, phantasievollen und auch mit viel Witz versehenen großflächigen bewegten Bilder halten die Sängerschaft (und den Chor) auf Trab, die präzise Umsetzung der Verschmelzung von Bild und Live-Performance fasziniert. Die (leider viel zu kleine, aber umso herausfordernde) Rolle der Olympia bewältigt die junge ukrainische Sopranistin Tetiana Zhuravel mit perlenden Koloraturen und präzisen, stratosphärischen Spitzentönen auf herausragende Weise – eine Entdeckung des Abends!
Tetiana Miyus, (Antonia), Statisterie der Oper Graz (Credit: Werner Kmetitsch)
Menschliche Puppen
Den großen Kontrast, den der darauffolgende Akt um die todkranke Sängerin Antonia dazu bildet, arbeitet der Regisseur Neville Tranter bewegend heraus. Der Grandseigneur der Puppenspielerwelt ist berühmt für seine Arbeiten mit lebensgroßen Klappmaulpuppen, die hier von den Sänger:innen (in Begleitung eines Statisten bzw. einer Statistin) geführt werden: doppelte Herausforderung für die Darsteller:innen also, meisterhaft realisiert. Tranter vermag es, das Publikum binnen weniger Augenblicke an eine für Opernbühnen ungewöhnliche Ästhetik zu bannen, die Puppen wirken menschlicher, verletzlicher, als die Menschen. Nur Antonia und Hoffmann stehen ohne Puppen als Menschen auf der Bühne – sie sind es, die schließlich scheitern. Tetiana Miyus begeistert (leider in einer ihrer letzten Rollen in Graz) als Antonia zum wiederholten Male mit ihren Lyrismen, der Ausdruckskraft ihres zwischen Sanftmut und Verzweiflung changierenden Gesanges und ihrer berückenden Darstellung der zwischen Liebe, Kunst und Vernunft hin- und hergerissenen Sängerin. Die folgende Pause benötigt das Publikum tatsächlich, um hier einmal etwas durchzuatmen.
Den vierten Akt, mit der Kurtisane Giulietta im Zentrum, gestaltet die niederländische Regisseurin und Choreografin Nanine Linning als ein Gesamtkunstwerk aus Bewegung, Spiel, Licht und Gesang – und schafft mit dem (großartig mitziehenden) Chor Bilder einer Flut, die das Stück auf die Bühne schwemmt, und zum Schluss wieder mit sich zieht. Der dunkle, bedrohliche Charakter des Aktes ist stets präsent, die Dramatik der Musik schafft Linning in starke Bilder umzusetzen – auch hier: für Opernbühnen Außergewöhnliches faszinierend umgesetzt. Mareike Jankowski als Giulietta verfügt den runden, pastösen Mezzosopran, um ihrer Figur die nötige Erotik, aber auch das stimmliche Durchsetzungsvermögen um ihr das Bedrohliche zu entlocken. Getragen werden muss diese Oper selbstverständlich von Hoffmann: Matthias Koziorowski hat hier eine Mammut-Aufgabe zu bewältigen, verschärft dadurch, dass ihm auch noch eine Pause (jene nach dem Olympia-Akt) genommen wurde – erst am Ende des dritten Aktes hört man, dass er sich die Partie etwas einteilen muss. Dennoch beeindruckt er mit einem gut geführten Tenor, der an den richtigen Stellen lyrisch sein kann, an anderen die Kraft hat, sich durchzusetzen, die Spitzentöne sitzen, der eine oder andere bisweilen etwas zu kraftvoll. Als Darsteller wird der deutsche Tenor, inzwischen ja eine Stütze des Grazer Hauses, der facettenreichen Rolle mehr als gerecht: Vom Zweifeln des Künstlers, über die Rastlosigkeit, die Verzweiflung und das offen Fordernde durch die drei Akte bis zur Apotheose spannt er einen immensen Bogen an Darstellungskunst. Auch hier zu Recht großer Zuspruch seitens des Publikums. Sein ständiger Begleiter durch das Stück hindurch ist der die vier Widersacher verkörpernde Petr Sokolov, kultiviert singend, besser noch in seiner intensiven Darstellung.
Mehr als nur gut die Besetzung der (oftmals gar nicht so) „kleinen“ Rollen: Daeho Kim als Luther und Crespel, Mario Lerchenberger als Nathanaël und Spalanzani, Neven Crnić als Luxusbesetzung für einen Schlèmil und (der relativ kurzfristig eingesprungene) Peter Oh in den vier Dienerrollen zeigen, welch hohes Niveau das Ensemble der Grazer Oper inzwischen aufweisen kann (auch wenn hier leider Aderlass zu befürchten ist).
Das Orchester der Grazer Oper ist relativ klein besetzt, wartet dennoch stellenweise mit üppigem Klang auf, lässt aber auch vielfach durch schöne Soli aufhorchen und gibt der Bühne stets die Chance, gehört zu werden. Johannes Braun, neuer erster Kapellmeister an der Grazer Oper, hat die Zügel (bis auf ein, zwei kleine Wackler zu Beginn) fest im Griff und macht gleich in seiner ersten Produktion hier deutlich, dass er (gerade bei Offenbach heikle) Themen wie Tempo, Dynamik oder Übergänge souverän beherrscht. Wir dürfen gespannt sein, was da noch folgt. Die Grazer Oper legt also einen Saisonauftakt hin, den man durchaus als spektakulär – und spektakulär gelungen bezeichnen kann. Die Aufführung hat Potenzial, ein Publikumsmagnet zu werden. Auf Bühnen-Nachschub dieser Art darf das Grazer Publikum hoffen!
Peter Oh (Cochenille), Tetiana Zhuravel (Olympia), Matthias Koziorowski (Hoffmann), Mario Lerchenberger (Spalanzani) (Credit: Werner Kmetitsch)
Matthias Koziorowski (Hoffmann), Chor der Oper Graz (Credit: Werner Kmetitsch)