Der Schrecken des Vaterlands

steirischer herbst ’24: Horror Patriae

Text: - 25.06.2024

Rubrik: Kunst

La Fleur, The Phantom of the Operetta (2024), Performance, Foto: Monika Gintersdorfer

Das Festival für zeitgenössische kunst steirischer herbst zerlegt in seiner 57. Ausgabe von 19. September bis zum 13, Oktober Begriffe wie Vaterland, Heimat und Identität. Begriffe, die uns aktuell an jeder Ecke begegnen und nicht immer Freude verbreiten.

Im Superwahljahr könnte der Schrecken dauerhaft werden. Überall auf der Welt wird gewählt – auch in Österreich. Und überall hebt der Nationalismus seine Fratze und säuselt verführerische Slogans. Der steirische herbst will die Verführung enttarnen, die Narrative hinterfragen, das Vaterland sezieren und dessen Schrecken in die Schranken weisen. Die Mittel sind die gleichen wie in der Gründungsphase des Festivals in den späten 1960er-Jahren, als die Nachwehen des Nationalsozialismus allgegenwärtig waren: Performances, Ausstellungen, Interventionen, Musik und Literatur. Damals sollten sie verstören, aufrütteln, die Masken wegreißen, den Mief vertreiben. Das müssen sie auch heute.

Intendantin und Chefkuratorin Ekaterina Degot bei der Pressekonferenz am 25.6. im Landeszeughaus, Foto: Sebastian Reiser

Horror Herkunft

Der steirische herbst ’24 findet vom 19. September bis 13. Oktober unter dem Titel Horror Patriae in Graz und der Steiermark statt. Der lateinische Titel ist ein Mischwesen, entstanden aus der Liebe zum Vaterland (amor patriae) und dem Schrecken der Leere (horror vacui). Aber was ist das Vaterland? Wie entsteht es? Wer definiert es? Und warum, in aller Welt, sollten wir es lieben? Oder fürchten?Intendantin und Chefkuratorin Ekaterina Degot über das Konzept:

„Ist unsere Herkunft wichtig? Ist es wesentlich, wo wir geboren wurden? Die Welt scheint immer mehr davon überzeugt. Wir sollen Vorfahren, Wurzeln, Traditionen, Identitäten, Territorien, Stämme und Nationen haben. Wir müssen dazugehören. Für diejenigen, die nicht dazugehören, die sich ausgeschlossen fühlen oder sich nicht mit ihrer Nation identifizieren, ist das beängstigend. Vielleicht sogar ein Horror. Ein Schrecken des Vaterlands. Die Heimat wird unheimlich. Leben Sie in Ihrem Geburtsland? Sind Sie Teil der ‚Leitkultur‘? Möchten Sie es sein? Dies sind ernste Fragen, aber sie öffnen auch die Tür für Fantasie und Humor. Nationen, Grenzen, Wurzeln und Bräuche sind eher Fiktion als Realität. Einer der Orte, an denen sie historisch entstanden sind, ist das Museum. Deshalb kreist die zentrale Gruppenausstellung um das Universalmuseum Joanneum und seine Geschichte.“

Alina Kleytman, The Tongue (2020), Standbild, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin

Programmvorschau (Auswahl)

Programmvorschau (Auswahl)
 
Natalia Pschenitschnikova eröffnet den steirischen herbst ’24 am 19. September um 17:00 mit ihrer musikalischen Performance A.E.I.O.U. im Lesliehof zusammen mit sechs weiteren renommierten Musiker:innen. Als Prolog – im Anschluss an das Aufsteirern – stellt Yoshinori Niwa ein Wahlplakat in den öffentlichen Raum, das sich auflöst, und seziert so fahnenschwingenden Politiksprech mitten im Wahlkampf. Das transnationale Kollektiv La Fleur lässt in The Phantom of the Operetta den metaphorischen Luster auf das Publikum krachen.

Der aus New York stammende Künstler und Komponist Ari Benjamin Meyersgilt als Shootingstar der zeitgenössischen Kunstwelt. Nach Arbeiten für das Festival d’Avignon oder die Berliner Festspiele (beides 2023) lässt er in The Nation of Sleep in einer bizarren Rollenumkehr Kinder die Erwachsenen in den Schlaf singen. Und das in einer riesigen Tennishalle. Den Text steuert der bekannte britische Autor Tom McCarthy bei.
 
Ein weiteres Highlight ist die neue Arbeit des belgischen Künstlers Thomas Verstraeten vom renommierten Kollektiv FC Bergman, das letztes Jahr bei der Theaterbiennale in Venedig den Silbernen Löwen erhalten hat. Im Grazer Traditionsmodehaus Kastner & Öhler entsteht unter Verstraetens Regie ein immersives Theatererlebnis, in dem Heimatklischees und die Inbesitznahme von Natur verhandelt werden. Der Wiederauferstehung der Natur widmet sich hingegen die Gewinnerin des Werner-Fenz-Stipendiums Clara Ianni in ihrer Arbeit Resurrection, während Regisseur Felix Hafner und Ensemble die Absurdität eines steirischen Volksliederabends in Addis Abeba im Jahr 1925 nachzeichnen.

Natürlich werden im Festival auch Orte jenseits der Grazer Stadtgrenzen bespielt. So lässt Gerald Straub an einem Kreisverkehr bei Studenzen und anderen Orten seine Corridos Estiria erklingen. Diese ursprünglich mexikanische Liedform der unteren Schichten besingt oftmals Taten von Banditen und Helden. Ein Gastspiel führt dieses Projekt aus dem Partnerprogramm auch auf den Grazer Hauptplatz.

Das Theater im Bahnhof durchlebt für die heurige Ausgabe in Spiel mir das Lied von Knittelfeld oder die Pubertät der FPÖ noch einmal die Implosion der Freiheitlichen Partei Österreichs auf dem Knittelfelder Parteitag 2002.

Marta Navaridas, Once Upon a Time in the Flames / Our Firebird Ballet (2024), Performance, Foto: Elsa Okazaki

Herzstück und Bewährtes

Neben diesen und weiteren Performances, allesamt Auftragswerke des Festivals, ist das Herzstück des steirischen herbst ’24 eine große Gruppenausstellung, ebenfalls genannt Horror Patriae, in der Neuen Galerie Graz. In ihrem historischen Gebäude lässt das Festival ein alternatives Museum der nationalen Komplexe und dunklen Fantasien entstehen. Die Ausstellung kombiniert Werke und Artefakte aus verschiedenen Sammlungen des Universalmuseum Joanneum mit Arbeiten zeitgenössischer Künstler:innen. In mehrere fiktive Abteilungen gegliedert, erzählt sie Geschichten, die von lokalen Mythen ausgehen und in die weite Welt hinausreichen. Ist dieses Museum einer dysfunktionalen und widersprüchlichen Nationalität die einzige Möglichkeit, sich ein Nationalmuseum in einer Zeit vorzustellen, in der patriotische Gefühle positiv aufgenommen werden, auch wenn diese eine dunkle Seite haben? Dieser und anderen Fragen gehen Auftragswerke von Sarnath Banerjee, Sergey Bratkov, Pablo Bronstein, Madison Bycroft, Ieva Epnere, Assaf Gruber, Jan Peter Hammer, ThomasHörl, Jakub Jansa, Nikolay Karabinovych, Alina Kleytman, Ingo Niermannund Erik Niedling, Roee Rosen, Marko Tadić, Helene Thümmel und PiotrUrbaniec nach.
 
Die Ausstellung ist eine Kooperation zwischen steirischer herbst und Neue Galerie Graz / Universalmuseum Joanneum.
 
Kunst Heimat Kunst Revisited, eine zweite Ausstellung im Forum Stadtpark, beleuchtet anhand von Archivmaterialien die Ausstellungsserie Kunst Heimat Kunst (1992–94), die der Grazer Kurator und Kunsthistoriker Werner Fenz (1944–2016) entwickelte, als die Jugoslawienkriege in der unmittelbaren Nachbarschaft Österreichs tobten. Im Rahmen dieser Schau werden auch die ersten Werke der neuen Sammlung des Werner-Fenz-Stipendiums beim steirischen herbst gezeigt.
 
Zum dritten Mal in Folge setzt der steirische herbst zudem mit dem herbstkabarett auf bissige, mutige Gesellschaftskritik in der Form von Burleske, Chanson, Stand-up und Poesie. Heuer mit sechs neuen Shows von László Göndör, hannsjana, Bernadette Laimbauer, Annina Machaz, PiotrUrbaniec und Alex Franz Zehetbauer.
 
Auch das Format Ideen kehrt zurück und präsentiert eine Reihe von „Deathmatches“ zu den wichtigsten Themen des Superwahljahrs, in denen diskursiv um die Gunst des Publikums gekämpft wird.