Polyphonie-Marathon im Mausoleum
Kritik: Multiple Voices, styriarte
Text: Martin Exner - 10.07.2025
Um die Entstehung des Werks ranken sich einige Theorien. Aber ob Thomas Tallis‘ Motette „Spem in alium“ nun zu König Elisabeth I. 40. Geburtstag komponiert wurde, oder aus lauter Begeisterung über eine ähnlich aufgebaute Motette aus Italien, oder die räumlichen Gegebenheiten eines Landschlosses in Surrey dafür ausschlaggebend waren, das 40-stimmige Meisterwerk der Polyphonie aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gilt als eines der größten Werke der Vokalkunst.
Die 40 Stimmen sind in acht Chöre geteilt, agieren allerdings durchwegs solistisch, weshalb das Werk – damals wie heute – schwierig aufzuführen war bzw. ist. Ganz anderes dachten sich der Schweizer Countertenor Terry Wey und der obersteirische Bassist Ulfried Staber bereits 2009, und holten sich mit Markus Wallner einen international tätigen Tonmeister und Klangingenieur an Bord. Heuer, 16 Jahre später, wiederholten sie das gewagte Projekt bei der styriarte im Grazer Mausoleum. Beide Sänger teilen sich dabei alle 40 Stimmen der Chöre untereinander auf und singen sie nacheinander im Overdubbing-Verfahren ein. Die Aufführung beginnt mit einer einzelnen Stimme, nach und nach kommen die weiteren hinzu, das Publikum kann miterleben, wie sich das Werk langsam aufbaut. Nach 40 Durchläufen – und exakt acht Stunden – sind alle Stimmen übereinander gelegt und die Motette komplett zu erleben.

Countertenor Terry Wey und Ulfried Staber (Bass) bewältigen die Marathonaufgabe nicht nur mit stimmlicher Ausdauer, sondern auch mit bewundernswerter Präzision und Konzentration. (Fotocredit: Theresa Pewal)
Mehrstimmige Meditationsführung
Dass sich bei diesem Verfahren und der Dauer eine gewisse Kontemplation breitmacht, liegt auf der Hand, dennoch ist der Weg sehr spannend. Bereits im vierten Durchlauf kommen erste Momente magischer Polyphonie, im neunten Durchgang sind alle – logischerweise anfänglich entstehenden – Pausen gefüllt, der Zuhörer, die Zuhörerin erlebt, zumeist in regelmäßiger Abwechslung von hoher und tiefer Stimme – wie einzelne Phrasen ergänzt werden, Harmonien wechseln, Stimmen kontrastiert werden – und wie genial Thomas Tallis sein Meisterwerk aufgebaut hat. Ab der Hälfte sind, dank der 16 im Raum verteilten Lautsprecher, auch die einzelnen Chöre zu erkennen und nehmen immer mehr Kontur an. Ein kleines Manko ergibt sich erst gegen Ende der Aufführung: Die anfänglich wunderbar herausgearbeiteten Stimmen vermengen sich immer mehr, in einigen Stellen zu einem (allerdings sehr homogenen) Klangbrei.
Vokalspezialisten hätten einwenden können, dass bei nur zwei Stimmen die Vielfalt fehlt, doch die beiden Ausführenden, die die Marathonaufgabe nicht nur mit stimmlicher Ausdauer, sondern auch mit bewundernswerter Präzision und Konzentration bewältigen, reizen ihre vokalen Möglichkeiten voll aus: Terry Wey führt seinen Counter von den höchsten, in schönster Reinheit gebrachten Höhen bis in fast tenorale Lagen, Ulfried Staber kann seinen profunden, wohlklingenden Bass bis in den hohen Baritonbereich erweitern. Den Mangel eines echten Tenors machen beide wett, indem sie die acht Durchläufe der Tenor-Stimmen – großteils gegen Ende der Aufführung – gemeinsam bestreiten und die jeweilige Stimme je nach individuellem Vermögen untereinander aufteilen, auch das mit faszinierendem Ergebnis. Markus Wallner verwaltete die Aufführung an seinem Mischpult souverän als Klangregisseur, der auch zwischendurch interessante Erklärungen für das Publikum bereit hatte.
Das – gegen Schluss leider nicht mehr zahlreiche – Publikum, selbst schon teilweise etwas ermattet, gewährte den Ausführenden nach dem vierzigsten Durchlauf noch einen einundvierzigsten, um das grandiose Werk auch selbst einmal in der Akustik des Mausoleums zu hören, und damit einen beglückenden Abschluss.