Mit Komik und Pastell gegen Stereotypen

Kritik: Minna von Barnhelm oder die Kosten des Glücks, Schauspielhaus Graz

Text: Lydia Bißmann - 09.11.2024

Rubrik: Theater
Sebastian Schindegger, Anke Stedingk, Sarah Sophia Meyer (c) Lex Karelly

Sebastian Schindegger, Anke Stedingk, Sarah Sophia Meyer (c) Lex Karelly

In dieser Saison widmen sich Ulrike Arnold und ihr Team Lessings Klassiker Minna von Barnhelm und holen ihn mit viel Verve, Gefühl und Fingerspitzengefühl ins 21. Jahrhundert. Das Resultat ist ein geschickt komponiertes Lustspiel mit klug platzierter Komik, modernem Auftreten und treffsicher gespielten Figuren, das seinem Genre alle Ehre macht.

Franziska Bornkamm verlegt das Hotel, in dem die gesamte Komödie spielt, vom 18. Jahrhundert in ein spärlich mit Möbeln und Geschmack ausgestattetes 80er-Jahre-Hotel an. Ein White Cube wird dafür mit charakteristischen Accessoires wie Stehlampen, Notausgangsleuchten, Aufzug und goldenen Türnummern ausgestattet. Die Zimmer befinden sich ständig in Bewegung; die Schauspieler:innen hanteln sich geradezu von Raum zu Raum. Das sorgt für Dynamik und verleiht der Pastell-Ästhetik in Kombination mit Florian Rynkowskis Musik einen Anflug der charmanten Poesie von Jacques Tati.
Annette Holzmann, Sarah Sophia Meyer (c)Lex Karelly

Annette Holzmann, Sarah Sophia Meyer (c)Lex Karelly

Menschen und menschliches im Hotel

Die Geschichte der Minna von Barnhelm ist schnell erzählt und eigentlich nicht so wahnsinnig aufregend. Die Handlung löst sich von selbst, die Entwicklung der Figuren bewegt sich im homöopathischen Bereich. Rich-Kid Minna (Anke Stedingk) macht sich auf die Suche nach ihrem Verlobten, der sie seit Ende des Siebenjährigen Krieges ghostet. Gefunden wird der durch Korruptionsverdacht und Kriegsverletzung waidwunde Soldat im Handumdrehen, sie bekommt unwissend sogar seine Suite, aus der der insolvente Offizier Major Tellheim (Sebastian Schindegger) delogiert wurde. Das Happy End, das auch selbst als überdimensionales Satinkissen mit Schmutzfleck in Erscheinung tritt, muss vor dem Ende zwar etliche Male weggeschickt werden, bevor es sich zum versöhnten Liebespaar kuscheln darf. Anke Stedingk spielt die exaltierte und bis über beide Ohren verliebte Minna mit jeder Faser ihres Körpers. Wie eine frisch angezündete Wunderkerze verspritzt sie ihre Energie durch das Stück und spart dabei völlig angstbefreit nicht mit Mimik, Slapstick und Selbstironie. Trotzdem sitzt jede Geste und jedes Stirnrunzeln perfekt, nie ist etwas in diesem Schwall an Gefühlsregungen unauthentisch oder übertrieben. So benehmen sich hormongesteuerte, kluge Gören eben, wenn sie etwas haben wollen.
Sarah Sophia Meyer und Simon Kirsch (c) Lex Karelly

Sarah Sophia Meyer und Simon Kirsch (c) Lex Karelly

Girlpower gegen Macho-Loser

Der etwas nüchterner angelegte Charakter ihrer Dienerin Franziska (Sarah Sophia Meyer) steht ihrer Herrin in puncto Selbstbewusstsein wenig nach. Sie küsst Paul Werner (Simon Kirsch) erst einmal lange und ganzkörperlich, bevor sie ihm die Hand schüttelt, und dirigiert auch sonst den mit Geld um sich werfenden und etwas ungeschickt flirtenden Kriegsgewinnler durch das Spiel in Richtung ihrer Wünsche. Er nennt Franziska „Frauenzimmerchen“, was dem Originaltext entspricht, aber mit Augenzwinkern auch auf das Eröffnungsstück des Vorjahres anspielt, in dem Sarah Sophia Meyer und Simon Kirsch ein ungleich tragischeres Paar mimten. Sebastian Schindegger gibt den Major von Tellheim beherzt als komplette Lusche, die im eigenen Selbstmitleid verrottet und sich nicht mal selbst die Schuhe binden oder die Lesebrille aufsetzen kann. Das Superego hat nichts als seine fragwürdige Auffassung von Ehre und Stolz im Sinn und blüht nur auf, wenn es anderen schlecht geht und er sie retten darf. Soldat eben. Der Krieg selbst kommt eigentlich nur als Beschäftigungsprojekt für Männer vor. Nur ein antiquiertes TV-Gerät zeigt News von einem Wiederaufbau – reden will eigentlich niemand so richtig darüber.
Anke Stedingk und Sarah Sophie Meyer (c) Lex Karelly

Anke Stedingk und Sarah Sophie Meyer (c) Lex Karelly

Tiefgang en passant

Anders als die lebensfrohe, aufgeschlossene und kontaktfreudige Quasselstrippe Minna kann Tellheim nur an sich selbst und sein Elend denken und ist ohne seinen Diener Just (Thomas Kramer) schlicht handlungsunfähig. Just kämpft sich tapfer durch sein Unheil, greift zu Tricks, um seinen vollkommen unterbezahlten 24/7-Job zu behalten, und behauptet sich stellvertretend für seinen Chef energisch , aber recht ergebnislos gegen die je nach Laune erotisch oder aggressiv aufgeladenen Avancen der Gastgeberin. Anette Holzmann macht als Wirtin ihr eigenes, anarchistisches Ding. Unnahbar und aufdringlich zugleich formt sie aus der eigentlich als Männerfigur gedachten Rolle eine Art Pausenclown mit Staubsauger und changiert zwischen Peter Pan und der Lindenstraße-Hausmeisterin Else Kling. Lessings Minna von Barnhelm bekommt, wie schon Nestroys Der Zerrissene in der letzten Saison von Ulrike Arnold, einen frischen, fröhlich-feministischen Anstrich, der viel Tiefgang hervorblitzen lässt, aber damit nicht hausieren geht. Sie befreit abermals einen Klassiker von problematischen Geschlechterklischees und bietet so zwei Stunden Theaterfreude für tatsächlich alle an.

Schauspielhaus Graz

Minna von Barnhelm oder die Kosten des Glücks
Lustspiel von Gotthold Ephraim Lessing

Minna von Barnhelm & Witwe Marloff: Anke Stedingk
Major von Tellheim & Riccaut de la Marlinière: Sebastian Schindegger
Franziska: Sarah Sophia Meyer
Paul Werner: Simon Kirsch
Wirtin: Annette Holzmann
Just: Thomas Kramer

Regie: Ulrike Arnold
Bühne: Franziska Bornkamm
Kostüme: Anna Lechner
Musik: Florian Rynkowski
Dramaturgie: Anna-Sophia Güther


Mehr Infos und Termine

Thomas Kramer und Sebastian Schindegger (c) Lex Karelly

Thomas Kramer und Sebastian Schindegger (c) Lex Karelly