Grand Opéra, geschickt reduziert
Kritik: Les Troyens, Hector Berlioz, Oper Graz
Text: Martin Exner - 20.01.2025
Hector Berlioz‘ Grand Opéra Les Troyens ist eine veritable Herausforderung – für die Opernhäuser, wie auch für das Publikum: Eine ellenlange Besetzungsliste, großer Chor und großes Orchester, Ballett und Pantomime, fünf Akte, ohne Striche viereinhalb Stunden Aufführungsdauer.
Aus drei Büchern der Aeneis von Vergil hat der Komponist eine zweiteilige Oper extrahiert, deren beiden Teile, Die Einnahme von Troja und Die Trojaner in Karthago, durch die Figur des trojanischen Helden Enée (Aeneas) verbunden sind, der den göttlichen Auftrag erhält, das zerstörte Troja zu verlassen und in Italien die Stadt Rom und ein neues Weltreich zu gründen.
Wilfried Zelinka und Anna Brull (Credit: Werner Kmetitsch)
Feminismus und Kriegskritik
So alt das Thema ist, so aktuell ist es auch heute noch: Die Oper erzählt vom Krieg, der, wenn er nicht beendet wird, immer weiter Krieg hervorrufen wird, von Vertreibung und Migration, vom Getrieben-Sein, und stellt den Humanismus auf den Prüfstand. Und obwohl Vergil mit Enée einen männlichen Helden ins Zentrum stellt, sind es bei Berlioz zwei Frauen, die die Oper prägen: in Troja die Seherin Cassandre (Kassandra), die verzweifelt gegen den Unglauben ihrer Mitmenschen ankämpft und schlussendlich durch den kollektiven Selbstmord der verlassenen Frauen Trojas der Schändung durch die Sieger entgeht, und die karthagische Königin Didon (Dido), die nach sieben Jahren endlich die Trauer über die Ermordung ihres Ehemannes überwindet und sich auf eine neue Liebe – zu Enée – einlässt und, von diesem schließlich verlassen, aus Wut und Verzweiflung beschließt, sich selbst zu töten. Und was hier nach typischer Opernmanier klingt, hat Berlioz spektakulär neu und ungewohnt konzipiert und komponiert: Cassandres Selbstmord ist wie ein triumphales Statement, ein früh-feministisches Ausrufezeichen, Didons Freitod ist keiner voll Trauer, sondern ein Ausbruch in Wut und Rache, ein Fanal.
Will Frost als der Schatten Hectors (Credit: Werner Kmetitsch)
Platz für Freiräume
Regisseurin Tatjana Gürbaca, deren Weltkarriere vor mehr als zwanzig Jahren auch in Graz ihren Anfang nahm, interessiert sich weniger für Kriegsgeheul und Menschenauflauf, ihre Inszenierung konzentriert sich eben auf diese beiden Frauenfiguren. In Abstimmung mit dem Dirigenten der Produktion, Vassilis Christopoulos, gibt es zahlreiche Striche, so beispielsweise fast alle Ballette und Pantomimen, auch viele Rollen wurden gestutzt, was der Aufführung zwar das Wesen der Grand Opéra nimmt, ihr allerdings nicht schlecht tut. Auf der weiten Bühne mit obligater schiefer Ebene, die von zwei großen mobilen Holzelementen dominiert wird (Bühne: Henrik Ahr), und die sich nur zum letzten Akt zu sehr verengt, macht Gürbaca das, wofür sie in der Opernwelt berühmt ist: Sie führt die Sängerinnen und Sänger (auch jene des Chores) behutsam, fast kammerspielartig durch das Stück, gibt ihnen Freiräume, jedem Einzelnen aber auch Charakter. Natürlich unterstützen sie dabei die fantastische Ausleuchtung durch Stefan Bolliger und die schönen, zeitlosen Kostüme von Barbara Drosihn, aber was da darstellerisch über die Grazer Bühne kommt, ist tatsächlich von großer Klasse!
Iurie Ciobanu als Enée. (Credit: Werner Kmetitsch)
Große Bögen und feine Töne
Ganz in diesem Sinne ist auch die musikalische Realisierung: nicht der Pomp, nicht die Massenszenen dominieren, sondern die großen Bögen und feinen Töne – nicht zu Unrecht, Berlioz bezeichnete sein Meisterwerk selbst als Poéme lyrique. Vassilis Christopoulos nimmt die groß aufspielenden, in den zahlreichen Instrumentalsoli brillanten Grazer Philharmoniker oftmals zurück, ohne dabei der Berlioz’schen Musik den ganz eigenen Stil, Ausdruck und Farbe zu nehmen. Danken tun ihm das nicht nur der großartige Chor der Grazer Oper (verstärkt diesmal durch den Philharmonia Chor Wien), sondern auch die Solistinnen und Solisten. Ihnen voran die beiden weiblichen Hauptfiguren: Mareike Jankowski spielt und singt die zunehmend verzweifelnde Cassandre herausragend, ihr runder, volltönender Mezzo ist bis ins triumphierende Finale präsent. Die Rolle der Didon ist bei Anna Brull gut aufgehoben, ihrer schönen, lyrischen Stimme kommt die Lesart von Christopoulos besonders entgegen, dank geschickten Zurücknehmens in einigen Passagen ist auch noch genügend Kraft für das furiose Finale vorhanden. Iurie Ciobanu besitzt eine robuste Tenorstimme, die es ihm erlaubt, die lange Partie des Enée (bis in die kräftigen, aber präzise gesetzten Spitzentöne) auszukosten, auch er ist in der Darstellung des Zweifelnden, Getriebenen, fast Ferngesteuerten auffallend überzeugend.
Ekaterina Solunya, Will Frost, Dimitri Fontolan, Sangyeon Chae, Chöre. (Credit: Werner Kmetitsch)
Adelung für das Opernhaus
Eine Entdeckung des Abends ist Neira Muhić, Mitglied des Opernstudios der Grazer Oper, deren weicher, schön geführter Mezzosopran der Schwester Didons, Anna, starke Auftritte beschert. Auch Ekaterina Solunya als Ascagne (ebenso darstellerisch eindrucksvoll) und Euiyoung Peter Oh haben größere solistische Aufgaben, die sie einwandfrei erfüllen. Die zahlreichen kleineren Rollen werden von den Ensemblemitgliedern des Hauses (Markus Butter, Martin Fournier, Will Frost und Wilfried Zelinka) ansprechend gesungen und intensiv dargestellt. Für ein Opernhaus eine Adelung: ein derartiges Werk fast ausschließlich mit den Kräften des Hauses, Mitgliedern aus dem eigenen Ensemble besetzen zu können. Chapeau!
Mareike Jankowski, Will Frost, Chöre, Statisterie. (Credit: Werner Kmetitsch)
Les Troyens (Die Trojaner)
Grand Opéra in fünf Akten (zwei Teilen) (1856-1858)
Dichtung vom Komponisten Hector Berlioz nach Vergil
In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Besetzung:
- Vassilis Christopoulos Musikalische Leitung
Tatjana Gürbaca Inszenierung
Henrik Ahr Bühne - Barbara Drosihn Kostüme
- Stefan Bolliger Licht
- Katharina John / Carsten Jenß Dramaturgie
- Johannes Köhler Chor & Zusatzchor
- Iurie Ciobanu Enée
- Ekaterina Solunya Ascagne
- Will Frost Der Schatten Hectors | Geist von Hector | Panthée
- Mareike Jankowski Cassandre | Geist von Cassandre
- Ivan Oreščanin / Markus Butter Chorèbe | Geist von Chorèbe | Mercure
- Daeho Kim / Wilfried Zelinka Priam | Narbal | Geist von Priam
- Neira Muhić Hécube | Anna
- Martin Fournier Hélènus
- Anna Brull Didon
- Euiyoung Peter Oh Iopas | Hylas
- Sangyeon Chae / István Szécsi 1re Sentinelle
- Dimitri Fontolan / Di Guan 2e Sentinelle