Die VR-Wirrungen des Till Kokorda
Kritik: Echtzeitalter, Schauspielhaus Graz
Text: Sigrun Karre - 08.12.2024
Rubrik: Theater
Erst 2023 hat der österreichische Schriftsteller Tonio Schachinger für seinen zweiten Roman "Echtzeitalter" den Deutschen Buchpreis erhalten, ein Jahr später gibt es bereits eine Bühnenfassung. Die Uraufführung am 6. Dezember im Schauspielhaus Graz überraschte mit Lässigkeit, Understatement und einem stimmigen Zusammenspiel aus analogen und digitalen Elementen.
Die Uraufführung von „Echtzeitalter“ am Schauspielhaus Graz erregte schon im Vorhinein überregionales Medieninteresse. „Kann mir kaum einen Roman vorstellen, der sich schlechter für eine Bühnenadaption eignet“ kommentiert im Vorfeld der Uraufführung der „Theaterversion“ von Tonio Schachingers mit dem deutschen Buchpreis 2023 geadelten „Schulroman“ ein User im Standard-Forum. Eine Einschätzung, mit der er nicht alleine ist. Mit entsprechender Neugier und einem noch fast frisch maturierten Sohn, der dem Gaming nicht abgeneigt, dem Theater hingegen nur halbherzig zugeneigt ist, macht man sich auf den Weg zur Premiere im Schauspielhaus.
Millennials-Ästhetik auf der Bühne
Als Bühnen-„Bildschirmschoner“ stimmt ein übergroß projiziertes Computerspiel in Retro-Grafik das Publikum auf den Abend ein. Es handelt sich offenbar um das Echtzeit-Strategie-Spiel Age of Empire 2, das Tonio Schachinger zu seinem Roman inspiriert hat und – selbst für Nicht-Gamer schwer zu übersehen – schon ein Vierteljahrhundert am Buckel hat. Erst Minuten später entdeckt man den „Spielemacher“, einen kleinen Jungen (Gustav Breyvogel), der mit Laptop auf der Bühne hockt und das kindliche Alter Ego von Hauptfigur Till darstellt. Starke Wirkung erzielt das Bühnenbild in hellen Farben, konzipiert von Hanna von Eiff und F-Wiesel-Hälfte Jost von Harleßem, das aussieht wie vom Apple-Design-Studio entworfen und auf architektonische Tiefenwirkung mit ausschließlich „smart“ abgerundeten Ecken und Kanten setzt. In dieses cleane Setting fügen sich die Darsteller:innen einer Privatschulklasse in ebenso blassen „Candy-Colours“ (Kostüme: Hanna von Eiff) unauffällig ein. Diese Farbgebung ist keine Fiktion, höchstens eine Überspitzung des realen Jugend-Trends von Pastellfarben, die früher eher mit Babys und Senior:innen assoziiert waren. Bloß nicht auffallen, lautet die jugendliche Devise, auch, oder besonders im Marianum, einem vermeintlich elitären Aufbewahrungsort von Sprösslingen aus vornehmlich vermögendem bis reichem Wiener Haushalt. In den folgenden knapp zwei Stunden inklusive kurzer Umbaupause wird linear und relativ „skriptgetreu“ die Haupthandlung von Tonio Schachingers Roman auf die Bühne gebracht.
Credit: Lex Karelly
Unaufgeregte Bühnentransformation eines Romans
Erstmals ist bei einer großen Produktion auch das Künstler:innen-Duo F. Wiesel maßgeblich an der Umsetzung beteiligt, das seit gut einem Jahr mit der Konsole am Schauspielhaus ein offenes Labor für virtuelle Theaterformen betreibt. Wer ihre Arbeitsweise ein wenig kennt, weiß, dass sie sehr genau und reflektiert arbeiten. Auch bei Echtzeitalter widerstehen sie der Versuchung, auf VR-Effekt-Hascherei zu setzen. Dass man bei dieser Produktion ganz und gar keine „Materialschlacht“ gewinnen will, sondern präzise und behutsam mit der Geschichte umgeht, ist formal eine schöne „Übersetzung“ der Romanvorlage: Sowie Tonio Schachinger in seinem Roman nicht digitale gegen analoge Welt ausspielt, findet auch auf der Bühne beides Platz. Riskant an diesem Stoff ist nicht nur, dass er so gar nicht im klassischen Sinn dramatische Elemente bereithält. Auch die Darstellung von pubertierenden Schüler:innen und relativ holzschnittartig gezeichnetem Lehrpersonal ist keine leichte Aufgabe. Herausforderung eins meistert das Ensemble bravourös und mit viel Lässigkeit. Selbst der 19-jährige Sohn am Nebensitz ist begeistert von der schauspielerischen Leistung, lacht an Stellen, die die Mutter nicht versteht und kann keine Peinlichkeitsmomente erkennen.
Generation zwischen digital und analog
Die Erwachsenenrollen werden durch mehr oder weniger stilisierte (Hand-)Puppen dargestellt, was die Kluft zwischen beiden Welten drastisch sichtbar macht: Hallo, in einer Zeit, die keinen Generationenkonflikt mehr austrägt, weil das Tempo des technischen Fortschritts längst eine Generationenentfremdung eingeläutet hat. Besonders eindrücklich und berührend wird das in einer Mutter-Sohn-Szene, in der die kleine, intime Geste eines Puppenhaus-Spiels übergroß auf die Leinwand projiziert wird. Dem gefürchteten Lehrer Dolinar haucht Paul Graf mit faszinierendem Puppenspiel diabolische Präsenz ein. Wo er schattengleich im tiefbraunen Anzug auftaucht, droht Ungemach und antiquierter Lesestoff im Reclamheft-Format. Tonio Schachingers Seitenblicke auf das österreichische Zeitgeschehen der 2010er Jahre inklusive Ibiza-Affäre bekommen zwar nur wenig, dafür – angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen – wirksamen Platz auf der Bühne.
Credit: Lex Karelly
Anti-Aging fürs Theater
Die Coming of Age-Geschichte des Schülers und heimlichen AoE2-Profis Till und seiner Freund:innen mäandert mit subtilem Humor und Mühelosigkeit ohne große Höhen und Tiefen vor sich hin. Das erzeugt eine eigentümlich kühle Atmosphäre, die man als Lebensgefühl von jungen Menschen begreift, die mit den üblichen Pubertätswirren zu kämpfen haben, dabei aber unter dem Glassturz von Überbehütung aka Fremdbestimmung in einer zunehmend lädierten Welt ihren Spielraum im Virtuellen finden.
Echtzeitalter ist kein Gänsehaut-Theater mit großem Appell, so wenig wie das Tonio Schachingers Roman als Vorlage ist. Es ist ein sehr modernes Stück mit schlichter, subtiler Ästhetik, das Klarheit mit Atmosphäre verbindet und die digitale Zeitenwende als das erlebbar macht, was sie ist: längst da und wir mittendrin.
Den Stoff als Produktion auf die große Bühne zu bringen und nicht als Jugendstück zu „branden“, zeugt darüber hinaus von Mut und Wertschätzung für die Lebensrealität junger Menschen. Und natürlich auch von Weitblick in Hinblick auf die Überlebenschancen des oft totgesagten Theaters. Den Jungen hat es gefallen, also alles richtig gemacht.
Echtzeitalter
Dominik Puhl (Till)
Otiti Engelhardt (Feli)
Anna Klimovitskaya (Fina)
Mervan Ürkmez (Amir)
Paul Graf (Pallfy, Dolinar)
Oliver Chomik (Schulwart)
Gustav Breyvogel (Till als Kind)
Thomas Amegah, Hannah Brillinger, Eva Eklaude, Julia Hausstätter, Clara Hudel, Denis Krymsiy, Lena Pöltl, Eva Schmid (Schüler:innen)
Regie: Timon Jansen, F. Wiesel (Jost von Harleßem, Hanke Wilsmann)
Bühne: Hannah von Eiff, Jost von Harleßem
Kostüme: Hannah von Eiff
Figuren- & Modellbau: Jost von Harleßem, Hanke Wilsmann
Video: Jost von Harleßem
Dramaturgie: Andrea Vilter
Theaterfassung: Jost von Harleßem, Timon Jansen, Andrea Vilter, Hanke Wilsmann
Licht: Anton Oswald
Game Design; Michael Eisner
Mitarbeit Game Design: Thomas Mehaudy
Inspizienz: Roland Fischer
Regieassistenz & Abendspielleitung: Jasmin Karami
Ausstattungsassistenz: Franziska Gütgemann, Clara Hirzberger
Dramaturgieassistenz: Amelie Looper
Soufflage: Caroline Maier