NS-Geschichts-Memory als Radio-Show

Kritik: Die unerhörten Dinge, TiB

Text: Sigrun Karre - 10.09.2024

Rubrik: Theater

v.l.n.r: Martina Zinner, Gabriela Hiti, Juliette Eröd, Monika Klengel, Credit: Johannes Gellner

Das Theater im Bahnhof betreibt im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres von Bad Ischl Salzkammergut Provenienzforschung als Performance und zeigt wie man mit Theater unmittelbare Aufklärungsarbeit leistet.

Ein Schwerpunkt des Programms der Kulturhauptstadt Europas Bad Ischl Salzkammergut ist die Beleuchtung der Geschichte der Region – einschließlich ihrer dunklen Kapitel als Schauplatz in der NS-Zeit. Mit einem solchen hat sich das Theater im Bahnhof in Zusammenarbeit mit der Provenienzforscherin Monika Löscher vom Kunsthistorischen Museum in Wien und Kuratorin Birgit Johla vom Volkskundemuseum Graz beschäftigt. Wenn Kunst und Wissenschaft gemeinsame Sache machen, steht nicht die Haltung, sondern das genaue Hinsehen und Erforschen im Vordergrund. Das macht die als Live-Radiosendung konzipierte TiB-Performance deutlich, die am 30. August am Wochenmarkt in Altaussee uraufgeführt wurde. Vier Frauen (Juliette Eröd, Gabriela Hiti, Monika Klengel, Martina Zinner) im pastellfarbenen Biederfrauen-Look samt Strickweste und floralem Tischtuchmuster (Ausstattung:  Johanna Hierzegger) erzählen im weiß-blauenbesternten Event-Pavillon des „Radio Unerhört“ zwischen Marktstandln und Bauzäunen 12 reale, recherchierte Geschichten über jüdische Enteignung im Auseerland. Als wäre sie Teil einer TiB-Inszenierung konterkariert die Baustelle das etwas overdressede Altaussee-Idyll. Und weil die Geschichten sich um Dinge und Erinnerungen drehen, ist ein übergeordnetes „Ding“ als „Spielmacher“ eine schlaue Idee: Die Reihenfolge der Szenen wird mit einem eigens für die Produktion von Helene Thümmel gestalteten 24-teiligen Memory-Spiel spielerisch ausverhandelt. 12 Mal heißt es also „Pärchen!“
Die unerhörten Dinge, TiB

Credit: Johannes Gellner

Gesichter hinter Zahlen

Die insgesamt drei Stunden dauernde Performance muss nicht zwangsläufig in voller Länge „konsumiert“ werden, sondern lädt im öffentlichen Raum Passant:innen bei freiem Eintritt dazu ein, sich jederzeit ein- oder auszuklinken. Trotz Überlänge der Performance und hochsommerlicher Temperaturen ist man schnell angefixt von den Geschichten und will mehr davon. Die Inszenierung von Monika Klengel bettet Regionalgeschichten über Enteignung und Restitution geschickt ein zwischen gängige Elemente des Formats Unterhaltungs-Radiosendung, die da wären schöne Lieder (wunderbar komponiert bzw. arrangiert von Felix Klengel), Studio-Gast-Auftritte, Publikumsumfragen und einem Schätzspiel über die Anzahl der in der Region enteigneten Häuser im einst jüdischen Besitz. Ob man sich bei der Namensgebung für die Performance vom Berliner Museum für Unerhörte Dinge inspirieren ließ, bleibt Spekulation. In jedem Fall ist die Doppeldeutigkeit des Begriffs auch im Fall jener konkreten „Gegenstands-Biografien“ punktgenau passend, anhand derer es das weibliche TiB-Quartett schafft, konkrete und konkret verortete Geschichte(n) nicht nur faktisch, sondern auch atmosphärisch erlebbar zu machen. Bewusstheit wird dann besonders eindringlich erzeugt, wenn hinter den Zahlen Geschichten, Lebensläufe und buchstäblich begreifbare Gegenstände sichtbar werden.
Theater im Bahnhof am Wochenmarkt Altaussee

Credit: Sigrun Karre

Ambivalenz mit Fingerspitzengefühl

Im Zentrum der Erzählung stehen verschiedene Gegenstände wie eine Puppe, die Jahrzehnte später auf die andere Hälfte der Weltkugel reiste, oder das Hammerklavier der in den 1940ern deportierten und ermordeten Frida Gerngroß. Die unter dem Namen Maria Gardi als Schlagersängerin bekannte Jüdin trällerte in den 1920ern noch ohne Vorstellungskraft für das kommende Grauen lebenslustig: „Mir ist alles einerlei, ganz einerlei, wer wird das Leben denn so tragisch nehmen …“ Einen Schwerpunkt nimmt die Familie Mautner und ihre Trachten-Sammlung ein. Hier gibt es einen Link zu einem anderen Kulturhauptstadt-Projekt, der von Birgit Johler kuratierten Foto-Ausstellung von Konrad Mautner, die erst im Volkskundemuseum Graz und aktuell im Museum der Stadt Bad Ischl zu sehen ist.  Die Familie Mautner ist bis heute eng und höchst ambivalent mit Identität und Geschichte des Ausserlands verbunden, einerseits aufgrund von Konrad Mautners volkskundlicher Forschung und Sammlung sowie der von Anna Mautner gegründeten Mautner Handdruck-Manufaktur, andererseits durch Verfolgung, Enteignung, Flucht und langwierige Restitutionsverfahren der Familie nach dem Krieg. Fazit: ein erhellender Vormittag, der auf feinfühligen Fingerzeig statt auf erhobenen Zeigefinger setzt und die richtigen Fragen stellt: „Wo fängt es an, wo wir nicht mehr hinsehen wollen?“ Solange noch Restzweifel bestehen könnten, kann man nur wiederholt wiederholen: „Alles, was war, kann wieder kommen.“ Als unmittelbar nach Ende der Performance vom Festzelt des Kiritags Hubert von Goiserns Krisensong „Brenna muas guat", zweckentfremdet als simpler Stimmungsmacher, herüberschwappt, wirkt das wie ein final inszenierter „akustischer Übergriff“.