Body-Art und lebende Bilder

Kritik: Der Zerrissene, J.N. Nestroy, Schauspielhaus Graz

Text: Lydia Bißmann - 25.11.2023

Rubrik: Theater

Luisa-Schwab, Sebastian-Schindegger und Franz-Solar (Credit: Lex Karelly)

Ulrike Arnold gibt in ihrer Inszenierung des Nestroy-Evergreens „Der Zerrissene“ im Schauspielhaus Graz einen erfrischenden Dreh. Die Biedermeier-Screwball-Komödie um einen gelangweilten Kapitalisten mit mittelgroßem Herzen, der durch eine aufrichtige Frau mit Hands-on-Mentalität von seiner Fadesse erlöst wird, wird hier auf eine ganz neue Art zum Vibrieren gebracht.

Die Anfangsszene kommt fast ohne Text aus. Hier flitzen befrackte Ober durchs Bild (zum Wegwerfen komisch: Franz Solar) und tragen immer mehr Aperol Spritz von links nach rechts. Durchmischt werden sie von in Fête-Blanche-Klamotten steckenden Partygästen, die sich zu den Live-Takten von Clemens Rynkowski und Jan Samson Krizanic mit Ruderbewegungen durch die Szene „vougen”. Die Reichen nehmen den ganzen Platz ein und sehen trotzdem bescheuert aus; die armen Arbeitenden sind voll mit Leben, aber immer zu langsam für ihre Beine und ihren vorauseilenden Gehorsam.

Clemens-Maria-Riegler, Željko Marović (Credit: Lex Karelly)

Gummicharakter als Archetyp

Nach dem Intro, das teilweise sogar die Anmut und den Zauber von lebenden Bildern im Freeze bekommt (Bühne: Franziska Bornkamm, Kostüme: Anna Lechner), muss der Kapitalist aber noch vom Balkon fallen und von Kathi (oder dem Zufall) gerettet werden. Vorher gibt es testosterongetränkte Männerkämpfe mit Leiberlzerreißen und viel Körperkontakt. Željko Marović lässt schon beim ersten herabschauenden Hund auf der Partycouch perfekte Körperbeherrschung erahnen. Bei einer Evolutions-Performance, bei der er vom Stehen ins Liegen kommt und vom Rich Kid zum Penner wird, ist so gut wie jede einzelne Muskelfaser seiner Körper beteiligt. Auch seine Figur des Herr von Lips ist ein Gummikörper, der weder durch besonders gute noch schlechte Eigenschaften auffällt. Was für eine Leistung ist es, 100 Gulden herzuleihen, wenn man Millionen hat? Für einen Sympathieträger sind seine Äußerungen zu zynisch: „Armut is ohne Zweifel das Schrecklichste. Mir dürft' einer zehn Millionen herlegen und sagen, ich soll arm sein dafür, ich nehmet s' nicht. “, für ein Arschloch reicht es aber auch nicht, da seine Busenfreunde Wixer und Stifler (Oliver Chomik und Kaspar Simonischek als auf den Punkt eingespieltes Team) zu seichten Charakter aufweisen, der ihn daneben glänzen lässt.

Željko Marović, Oliver-Chomik und Kaspar-Simonischek (Credit: Lex Karelly)

Female Empowerment

Gebrochen wird im Stück, das 1844 seine Uraufführung hatte, ebenso mit den Frauenbildern. Genau in dem Moment, wo man sich darüber Gedanken macht, dass die netten Mädchen bei Nestroy irgendwie immer gleich sind, stimmt die vielseitige, Kraft und Kreativität aus jeder Pore schwitzende Luise Schwab darüber ein Lied an. Leider hallt der Ohrwurm „Und die Kathi ist lieb, weil Johann Nestroy sie so schrieb …“ noch stundenlang als Ohrwurm nach. Olivia Grigolli als Madame Schleyer, die es mit den Eheversprechen nicht so genau hält, geht einen Schritt weiter. Sie bekommt von Ulrike Haidacher, die die aktuellen Couplets verfasste, eine Chansoneinlage, in der sehr sie sich über ihre fehlende Bühnenzeit im Stück beschwert. Zu Recht: Sie gibt den Gold-digger für Arme locker flockig aus der Hüfte heraus, wirft sich mit der gleichen Verve einem Ex-Lover an die Brust wie hinter die Couch und jongliert genauso zielsicher mit moralischen Fragen wie mit Nestroys oft herausfordernden Grammatikkonstrukten.

Sebastian-Schindegger, Olivia-Grigolli und Željko Marović. (Credit Lex Karelly)

Slapstick ohne Wirtshaus Schmäh

Vor dem Finale glänzen Haupt- und Nebendarsteller*innen in Krautkopfs Etablissement. Das bis zur Maggi-Flasche sorgfältig durchdesignte Wirtshaus gibt ihnen bei verkleinerter Bühne mehr Raum für gut getakteten Slapstick, bei dem sich auch die beiden Live-Musiker beteiligen dürfen. Die anfangs groß eingeführte Kapitalismuskritik verliert hier etwas an Schärfe. Franz Solar als fleischgewordene Kleinunternehmer-Verzweiflung tröstet darüber hinweg. Es ist weniger das gewohnt witzige Pingpong der Dialoge, als vielmehr der ganzheitliche Einsatz der Schauspieler*innen, der den Abend (abgesehen von der traumhaften Ausstattung und den Beats von Clemens Rynkovski) zum sinnlich-sinnvollen Erlebnis macht. Stiere Blicke, hochgezogene Schultern oder völlig absurde Einlagen wie die High-Society Gymnastik oder der Ordnungstick des Justitiarius (Clemens Maria Riegler) stehlen Nestroys Sprachspielen mehrmals die Show. Ulrike Arnold holt das oft zu Unrecht als Wohlfühl-Posse inszenierte Stück so in das zeitgenössische Theater.