Ein neoliberaler Abgesang oder Herr K. erklärt die Welt
Kritik: Chronik der laufenden Entgleisungen, Schauspielhaus Graz
Text: Sigrun Karre - 24.09.2024
Rubrik: Theater
Jede Menge "Horror Patriae" gab es mit Thomas Köcks Uraufführung der "Chronik der laufenden Entgleisungen – Austria revisited" im Schauspielhaus Graz.
Die dritte Premiere des Schauspielhaus Graz innerhalb nur eines Wochenendes weckte im Vorfeld hohe Erwartungen. Immerhin gilt Thomas Köck, der Autor des Auftragstextes, als einer der angesagtesten Dramatiker im deutschsprachigen Raum und hat in letzten Jahren so ziemlich alle einschlägigen Preise abgeräumt – den renommierten Müllheimer Dramatikerpreis sogar gleich zweimal in Serie. Beauftragt vom Schauspielhaus Graz und dem Schauspielhaus Wien hat der in Oberösterreich aufgewachsene Wahlberliner einen umfangreichen Text geschrieben, der im August im Suhrkamp Verlag erschienen ist.
Mervan Ürkmez (c) Lex Karelly
„Wir leben in einem Riss“
Ein stark gekürztes Textkonzentrat wurde als Koproduktion der beiden Theaterhäuser in Kooperation mit dem steirischen herbst’24 am 22. September in Graz uraufgeführt und wandert demnächst nach Wien. Der Text, der sich mit den politischen Ereignissen der näheren Vergangenheit in Österreich, aber auch Deutschland und darüber hinaus beschäftigt, passt punktgenau zum diesjährigen herbst-Motto „Horror Patriae“ und auch zur anstehenden Nationalratswahl. Als Wahlempfehlung lässt sich Thomas Köcks „Chronik“ natürlich lesen, wenn auch bezweifelt werden darf, dass sie die Menschen erreicht, an die sie sich richtet. Polizeipräsenz im Foyer des Theaters deutet jedenfalls an, dass diese Premiere bereits in einer Ausnahmezeit stattfindet.
Durch die Linse eingangs erwähnter, hoher Erwartung betrachtet, ist der Theaterabend leider enttäuschend. Dabei fängt er vielversprechend an. Sechs Darsteller:innen uniform in nationalfarbene Trainingsanzüge mit den drei Streifen gekleidet, performen auf einer Bühne in Lagerhallenästhetik in einem durchscheinenden Würfel, der sinnbildlich für die beengten Verhältnisse und den begrenzten Spielraum der Arbeiterschicht stehen könnte. Denn um die geht es unter anderem. Erst aber rezitiert das Ensemble abwechselnd und immer wieder im Chor aus tagebuchähnlichen Notizen über die innerpolitischen Wirren der letzten Jahre.
Ensemble (c) Lex Karelly
„Was ist diese Zeit eigentlich?“
Stark ist jene autobiografisch eingefärbte Passage, die von der Reduktion der Arbeiter und Nicht-Akademiker auf ihren Körper spricht. Wer den Körper der unteren Schichten gebrauchen will, lässt diese nicht gerne ihren Geist gebrauchen. Das könnte die Conclusio aus Thomas Köcks Erinnerung an die eigene Schulzeit sein.
Die zuckende Performance aus vermeintlich unwillkürlichen Bewegungen der Darstellerinnen bringt das Trauma dieser Verdinglichung verstörend zum Ausdruck. Körper, die durch Arbeit oder an anderer Stelle, durch Krieg versehrt werden, sind eine brutale Realität, die Thomas Köck eindringlich skizziert.
Aus seinem Nachdenken über das 21. Jahrhundert entstehen einige kraftvolle Sprachbilder; mit fortschreitendem Abend beginnt der Text jedoch deutlich zu schwächeln, pendelt stellenweise gar zwischen Larmoyanz und Predigerton. Vielleicht liegt das auch daran, dass der Text plötzlich nur noch politische Haltung bewahren möchte und über das Niveau eines Sammelsuriums aus Facebook- oder X-Kommentaren nicht hinauskommt. Politisches Theater mit scharfer Klinge ist das nicht.
Während Spannung und Aufmerksamkeit im Publikum zunehmend nachlassen, bekommt man spontan Sehnsucht nach Elfriede Jelinek, denn sprachlich und intellektuell wird man innerhalb von zwei Stunden nicht oft vom Hocker gerissen. Wie viel Anteil daran die Textkürzung hat, lässt sich erst nach der Lektüre der Langversion beurteilen; wirklich Blut geleckt hat man nach diesem „Teaser“ allerdings nicht.
Bei einer Textflächen-Inszenierung können auch die Darsteller:innen nur eingeschränkt Schadensbegrenzung betreiben. Das Ensemble arbeitet sich bis zum Schluss hoch motiviert durch die körperlich und sprechtechnisch anspruchsvolle Performance, bewacht von der zentral und erhöht positionierten „Hohepriesterin“ des Elektro-Sounds, der Musikerin Lila-Zoé Krauß. Immerhin: Den tagespolitischen Wahnsinn der letzten Jahre, den man teils vergessen oder verdrängt hat, bekommt man komprimiert wieder in Erinnerung gerufen. Und damit auch eine Vorstellung davon, warum hierzulande und anderswo unverändert gewählt wird, wie eben gewählt wird. Am Ende ist man dann wieder am Anfang: Geschichte hat Wiederholungspotential. Das hat sich mittlerweile herumgesprochen, Auswege sind noch nicht in Sicht.
Schauspielhaus Graz, Hofgasse 11, 8010 Graz
Schauspiel: Tala Al-Deen, Otiti Engelhardt, Kaspar Locher, Sophia Löffler, Karola Niederhuber, Mervan Ürkmez
Regie: Marie Bues
Bühne: Heike Mondschein
Kostüme: Amit Epstein
Musik: Lila-Zoé Krauß
Choreographie & Bewegung: Mason Manning
Chorarbeit: Claudia Sendlinger
Dramaturgie: Martina Grohmann, Male Günther
Licht: Oliver Mathias Kratochwill