Mit Notizbuch durchs Quantenfeld
Kritik: Chronik der Dinge, die wir nicht verstehen
Text: Sigrun Karre - 11.05.2025
Mit der Uraufführung von Chronik der Dinge, die wir nicht verstehen am 8. Mai im QUARTIER des Theater im Bahnhof eröffnet das Ensemble eine ebenso verspielte wie pointierte Expedition ins Nichtwissen – mit Quantenchaos, Zugvögeln, Schlafanzug und Chanson. Ein Erlebnis.
Das Theater im Bahnhof widmet sich einmal mehr seiner Stadt – Graz – und legt auf spielerische, zugängliche Weise gesellschaftliche Fragestellungen offen, die klug und weitreichend sind. In der neuen Produktion Chronik der Dinge, die wir nicht verstehen nimmt sich das Ensemble nichts Geringeres vor als das, was sich dem Begreifen entzieht. Es geht dabei auch um ein bewusstes Infragestellen vermeintlich selbstverständlicher Sichtweisen. Was Theater im besten Fall kann – neue Perspektiven öffnen – ist hier anregendes Programm.
Kopfkino und Grünes Band
Serviert wird reichlich Stoff für müde Hirnzellen – und Impulse für den einen oder anderen gedanklichen Perspektivwechsel. Idee und Text stammen von Eva Hofer, die dem Ensemble einen weit verzweigten Denk- und Spielraum eröffnet: für Miniaturen zwischen Selbstversuch, Stadtraumerkundung, Performance und poetischer Verunsicherung. Ausgangspunkt ist Das Grüne Band Graz – ein 2024 von Margarethe Makovec, Sibylle Dienesch und Thomas Wolkinger initiiertes Netzwerkprojekt, das die wilden, vitalen Orte zwischen Plabutsch und Leechwald verbindet – geografisch, und gedanklich. Die Initiator:innen waren bei der Premiere anwesend.
Die TiB-Performer:innen begeben sich auf Expedition in dieses „gedankliche Band“, das weniger Weg als Möglichkeitsraum ist. Noch bevor die Bühne betreten wird, ziehen sie mit Kamera, Notizbuch und forschender Zärtlichkeit durch die Stadt. Die so entstandenen Videoaufnahmen – aufgenommen an Orten des Grünen Bandes – greifen mal ergänzend, mal konternd in die Struktur des Abends ein. Die Bühne wird durchlässig, erweitert sich virtuell in den öffentlichen Raum.
Vielleicht zeigt sich hier, was Theater im „Erklärungsnotstand“ kann: Es fragt, ohne zu dozieren – und eröffnet Räume, in denen Denken zum Erlebnis wird. Fast, als hätte Lernen manchmal mehr mit Offenheit zu tun als mit Unterricht.

Rupert Lehofer, (Fotocredit: Johannes Gellner)
Von Zeilinger bis Zugvogel
„Quantenfeld? Ja, gibt’s“, meint Monika Klengel trocken – im weißen Laborkittel, der andeuten soll, was sie ausspricht: „Ich interessiere mich mehr für die Wissenschaft.“ Angesichts des „größten Lochs der Stadt“, der Baustelle des Center of Physics, sinniert sie über Elektronenmikroskope und stellt dem Publikum – und sich selbst – die Frage nach ihrem Verhältnis zur Nostalgie. „Ich finde Nostalgie nicht gut für uns“, stellt sie klar und versucht sich über die unfassbare Komplexität der Quantenphysik hinwegzutrösten: „Anton Zeilinger versteht’s auch nicht.“ Dabei macht sie sich ebenso Gedanken über die Hypersensibilität technischer Geräte wie über die Flugrouten von Zugvögeln. Das große Ganze wird hier über das scheinbar Nebensächliche befragt – mit Leichtigkeit und Tiefe zugleich.

Monika Klengel und Gabriela Hiti, (Fotocredit: Johannes Gellner)
Gefühl mit Glitzer
Gabriela Hiti, in wechselnden Glitzeroutfits, gibt ihrem „inneren Pfau“ eine Bühne. Als glamouröse Chansonnière mit Hang zum Öko-Aktivismus singt sie ein zärtlich-kritisches Lied über Mikroorganismen: „In einer Handvoll Erde leben mehr Wesen als Menschen auf der Welt … Sie wissen nichts von seltenen Erden und führen keinen Krieg.“ Ein wenig fühlt man sich erinnert an Blumfelds einst wegen dringenden Kitschverdachts umstrittenes, inzwischen rehabilitiertes Album Verbotene Früchte, das sich ähnlich unverblümt der Flora und Fauna widmete – wobei im TiB-Kontext der Ironiedetektor natürlich nie ausgeschaltet ist.
Jacob Banigan erinnert sich an kanadischen Square Dance im Sportunterricht und bewegt sich tänzelnd durch das dichtbebaute Graz – Seite an Seite mit Juliette Eröd. Gemeinsam begeben sie sich auf eine performative Reise zum inneren Wolf – samt kurzzeitigem Verlust der Zweibeinigkeit und Anheulung des Mondes. Juliette Eröd will das Publikum zum Weinen bringen – und kommt dabei selbst nicht unberührt davon.

Jacob Banigan und Juliette Eröd, (Fotocredit: Johannes Gellner)
Schlaflos in Mariagrün
Die Sternwarte Mariagrün erkundet ein schlafloser Lorenz Kabas im Pyjama. Sein Versuch, auf der Bühne einzuschlafen, wird von Mitspieler:innen und schwirrenden Gedanken torpediert – ein sprechendes Bild für ein Zeitalter der ständigen Wachheit: Wann genau, fragt Lorenz Kabas, ist man sich selbst genug, um ruhen zu dürfen?
Rupert Lehofer folgt Kindheitserinnerungen an seine frühe Faszination für ausgestopfte Tiere im Schloss Eggenberg. Sein radikaler Selbstversuch ist der kompromissloseste des Abends, sein reduziertes Kostüm ein klares Statement für Öko-Minimalismus à la Back to the Roots. Das Thema greift auch Monika Klengel auf: Jäger- und Sammlerkurse für Kinder hält sie – nicht ohne angedeutetes Bedauern – für nicht mehr zeitgemäß. Gabriela Hiti wiederum berichtet von einem Urvolk in Thailand – und liefert damit Impulse für ein Nachdenken über Konstrukte und Normen, die andernorts buchstäblich keinen Begriff darstellen.
„Je mehr man versteht, umso schwieriger wird es im Leben." sinniert Lorenz Kabas. Vielleicht. Aber mitunter auch interessanter. Das komische Gespür der Darsteller:innen trägt entscheidend zur Wirkung der Theaterperformance bei – mit feiner Beobachtung und szenischer Präzision entstehen immer wieder überraschende Wendungen und Brechungen. Ein interessanter, riskanter und irrwitziger Abend – der zeigt: Relevanz geht auch ohne Bedeutungsschwere.
Mit: Jacob Banigan, Juliette Eröd, Gabriela Hiti, Lorenz Kabas, Monika Klengel, Rupert Lehofer
Text, Konzept: Eva Hofer
Videos, Konzept: Johanna Hierzegger
Ausstattung, Fotos: Helene Thümmel
Musik: Benno Hiti
Videoton, Videosupport: Fritz Hierzegger
Technik: Markus Rudolf-Klengel
Produktionsleitung, Fotos: Christina Romirer
Outside Eyes: Ed.Hauswirth, Pia Hierzegger, Helmut Köpping
Dank an: Karoline Rudolf-Klengel, Martin Schneebacher, Johannes Schrettle, Michael Suppan