Frau Idiskut und die 27 Zwerge
Filmkritik: Favoriten, Ruth Beckermann
Text: Sigrun Karre & Lydia Bißmann - 10.09.2024
Rubrik: Film
Ruth Beckermanns Dokumentarfilm „Favoriten“ kommt zur rechten Zeit. Drei Jahre begleitete sie mit Kameramann Johannes Hammel eine Volksschulklasse im Wiener Brennpunktbezirk Favoriten.
Der bevölkerungsreichste Stadtteil Wiens ist dicht besiedelt, die Bevölkerung ist jung, der Migrant*innen-Anteil hoch und das Durchschnittseinkommen deutlich geringer als anderswo in Wien. Als Bezirk krimineller Teenager verschrien, kommt Favoriten derzeit nicht aus den Schlagzeilen. Beckermanns Langzeitdoku macht mit behutsamem Blick sichtbar, wo – und vor allem auch wann – Perspektiven geschaffen werden können – oder verloren gehen.
Wer Beckermanns Filme wie Waldheims Walzer, 2018, Mutzenbacher, 2022 oder Die Geträumten, 2016 kennt, wundert sich nicht, dass sie der Versuchung widersteht, filmisch eine explizite Haltung einzunehmen oder einseitig auf Problemen „draufzuhalten“. Vielmehr gelingt es ihr, zu zeigen, was ist, mit allen Potenzialen, Schwierigkeiten und Ambivalenzen. Vor allem aber macht der Film in einem ausbalancierten Verhältnis von Distanz und Nähe sichtbar, wie Gemeinschaft funktioniert und stets aufs Neue ausverhandelt wird. Neben Rechnen, Lesen und Schreiben lernen die 27 Kinder, wie man Konflikte löst, was Gleichberechtigung und Selbstbestimmung bedeuten, und dass eine Gemeinschaft niemanden ausschließt.
Credit: Ruth Beckermann Filmproduktion
Schwimmbad, Stephansdom und Schularbeit
Der Film lässt via Leinwand miterleben, wie Amina, Arian, Alper, Beid, Dani, Danilo, David, Davut, Eda, Egemen, Elif, Enes, Fatima Furkan, Hafsa, Ibrahim, Liemar, Manessa, Melisa, Mohammed, Natalia, Nerjiss, Rebeca, Selen, Selin, Teodora und Valentin drei Schuljahre lang lernen, spielen, und streiten, eine Moschee, den Stephansdom und den Markt besuchen und ins Schwimmbad gehen, dabei größer werden und immer mehr zusammenwachsen. Die Kamera ist dabei fast immer nah dran, auch wenn z.B. nach der Notengebung Tränen fließen. Hier ist der empathische Blick besonders spürbar, der feinfühlig begleitet, aber nicht zu tief in die einzelnen Charaktere eintaucht. Die Kinder sprechen teilweise mehrere Sprachen, ihre Eltern haben nach ihrer Arbeit als Diplomkrankenschwester, Bauarbeiter oder Paketzusteller abends oft keine Energie mehr, sich mit dem Nachwuchs in einer Fremdsprache zu unterhalten. Wie stark der Integrationsdruck hinsichtlich schulischer Leistungen vonseiten der Eltern mancher Kinder ist, wird spürbar. Die soziale Segregation durch das Uraltsystem „Mittelschule oder Gymnasium“ beginnt nach der Volksschule und verfestigt so Gräben, die nicht unbedingt zu einer verbindenden, aufgeschlossenen und solidarischen Gesellschaft beitragen.
Dass im Film auch die Perspektiven der Kinder in Form von Handy-Video-Interviews, die sie selbst führen, mit einfließen, ist nicht nur charmant, sondern konsequent im Versuch sich ihrer Lebenswelt filmisch zu nähern.
Credit: Ruth Beckermann Filmproduktion
Eine für Viele
„Favoriten“-Lehrerin Ilkay Idiskut ist einerseits natürlich das perfekte Role Model für geglückte Integration und ein modernes migrantisches Frauenbild, sie ist aber in erster Linie Pädagogin, die ihren Beruf mit einer Extra-Portion Herzblut ausübt. Trotz erschwerter Rahmenbedingungen: In einer Szene verkündet der Schulleiter der Brennpunkt-Schule dem Lehrerkollegium, dass der Schulsozialarbeiter in den Mittelschulbereich abgezogen wurde und auch die karenzierte Schulpsychologin aktuell nicht nachbesetzt wird. In der vierten Klasse kommt eine neue Schülerin ohne Deutschkenntnisse dazu, die vorgesehene Zweitpädagogin gibt es aus Personalmangel nicht. Dennoch verliert die Lehrerin nicht von ihrer Toughness, mit der sie die Kinder dazu bringt, Konflikten selbst auf den Grund zu gehen oder der Behutsamkeit, mit der sie die Kleinen aus einer Traumreise aufweckt. Ihre Figur erobert die Herzen der Zuseher*innen im Nu – ganz bestimmt gibt es aber noch tausende
andere tapfere Pädagoginnen wie sie, die ihre herausfordernde Arbeit täglich abseits vom Rampenlicht mit der gleichen Behutsamkeit, Umsicht und Großherzigkeit erledigen.
Favoriten ist demnach auch eine Hommage an Lehrer*innen als heldenhafte
Einzelkämpfer*innen unserer Gesellschaft, deren Image in keinem Verhältnis zu ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit steht.
Ob der Film bei der Diagonale ähnlichen Erfolg haben wird, wie bei der Berlinale, bleibt abzuwarten. Wenn man den Grad der eigenen Rührung und die Schnäuz-Geräusche auf der Toilette nach der Premiere als Indikator nimmt, ist „Favoriten“ schon mal ein fixer Favorit für den Publikumspreis.